zum Hauptinhalt

Was Wissen schafft: Ach wie gut, dass niemand weiß …

Kürzlich verurteilte ein Berliner Gericht einen Dealer zu einer Jugendstrafe - obwohl ein rechtsmedizinisches Gutachten ihn auf älter als 21 Jahre geschätzt hatte. Dabei ist die wissenschaftliche Altersbestimmung besser als ihr Ruf.

Der Drogendealer Hassan El-F. ist frei – das Berliner Jugendgericht verurteilte ihn nur zu 18 Monaten auf Bewährung. Auf den ihm zur Last gelegten, gewerbsmäßigen Handel mit Heroin, Kokain und Cannabis steht für Erwachsene mindestens ein Jahr Gefängnis, die Höchststrafe beträgt fünf Jahre. Doch der jugendlich wirkende Libanese hat keinen Pass. Nachdem er sich lange als 13-Jähriger ausgegeben hatte, behauptete er nun vor Gericht, erst 17 zu sein. Ein rechtsmedizinisches Gutachter meinte zwar: „Das Alter dürfte eher mehr als 21 Jahre betragen.“ Doch das war dem Gericht zu vage. Deshalb wurde Hassan El-F. nur zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Entgegen einem – auch bei Richtern – verbreiteten Vorurteil lässt sich das Alter eines Menschen heutzutage jedoch recht genau bestimmen, insbesondere im Kindes- und Jugendalter. Als Standard gilt die Beurteilung der Zahnentwicklung und des Knochenwachstums. Einfache Faustregeln, wonach etwa der letzte Milchzahn spätestens mit 13 ausfällt und ein Mensch mit vier Weisheitszähnen auf jeden Fall über 18 ist, sind inzwischen überholt.

Stattdessen wird auf einer Röntgenaufnahme die Entwicklung und Mineralisation der Zähne im Detail beurteilt. Zusätzlich vergleicht der Gutachter ein Röntgenbild der linken Hand mit Standardaufnahmen („Atlasmethode“) und beurteilt den Reifegrad ausgewählter Knochen („Einzelknochenmethode“). Da das Handskelett mit 17 Jahren (Mädchen) beziehungsweise 18 Jahren (Jungen) vollständig entwickelt ist, wird für die Bestimmung der für das Strafrecht wichtigen Altersgrenze von 21 Jahren zusätzlich ein Röntgenbild des Schlüsselbeins herangezogen, wo die letzten Knorpellücken erst mit 26 Jahren verwachsen. Entwicklungsstörungen, etwa durch Unterernährung oder Diabetes, müssen ausgeschlossen werden.

Zusammen können diese Verfahren das Alter mit einer Genauigkeit von zwei bis vier Jahren schätzen. Ethnische Unterschiede bei der Knochen- und Zahnentwicklung, die bei Asylbewerbern oft ins Feld geführt werden, sind äußerst gering. Eine verzögerte Entwicklung, etwa durch häufige Krankheit bei ungünstigen sozioökonomischen Verhältnissen, ist in der strafrechtlichen Praxis kein Nachteil, da das Alter der Beschuldigten dann eher zu niedrig geschätzt wird.

Für eine noch genauere Altersbestimmung muss ein Weisheitszahn oder eine Zahnprobe entnommen werden. Aminosäuren, die Bausteine der Proteine, werden vom menschlichen Körper nur in einer bestimmten geometrischen Form synthetisiert. Diese „L-Aminosäuren“ lagern sich langsam in die dazu spiegelbildlichen „D-Aminosäuren“ um. In Regionen des Körpers mit geringer Stoffwechselaktivität, wie dem knochenähnlichen Dentin im Innern der Zähne, findet diese Umlagerung extrem langsam und mit konstanter Geschwindigkeit statt. Deshalb kann anhand des Verhältnisses von L- zu D-Aminosäuren im Dentin das Alter eines Menschen sehr genau bestimmt werden.

Das Zahnmaterial gibt nicht nur Auskunft über die Lebensdauer eines Menschen, sondern verrät auch sein absolutes Geburtsjahr. Durch die überirdischen Atombombenexplosionen der Jahre 1955 bis 1963 wurden große Mengen des radioaktiven Kohlenstoff- Isotops C-14 freigesetzt, das sich chemisch zu Kohlendioxid umsetzte. Weil die Meere das radioaktive Kohlendioxid nach und nach absorbieren, nimmt dessen Anteil seit 1963 kontinuierlich ab. Pflanzen nehmen Kohlendioxid auf, Tiere fressen Pflanzen, Menschen essen Pflanzen und Tiere. Deshalb tragen Zähne, die nach dem Kleinkindalter kaum noch Kohlenstoff einlagern, eine für das Geburtsjahr spezifische „Kohlenstoff-Signatur“ in sich.

Aus dem Anteil des Isotops C-14 und dem Verhältnis der D- und L-Aminosäuren kann die Geburtszeit auf ein Jahr genau berechnet werden. Allerdings sind diese Verfahren aufwendig und, bei Entnahme von Zahnmaterial, nur mit Einverständnis des Probanden möglich. Bei schweren Straftaten, wo das Alter über Leben und Tod entscheiden kann, kommen diese Untersuchungen als Entlastungsbeweis jedoch infrage – auch der zum Tode verurteilte Attentäter von Mumbai, der im November 2008 an der Ermordung von 166 Menschen beteiligt war, behauptet, minderjährig zu sein.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false