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Was WISSEN schafft: Aus einem kleinen Dorf in Mexiko

Die Schweinegrippe ist längst ein Menschenvirus. In Deutschland wurden die Krisenstäbe einberufen, Staat und Bürger rechnen mit dem Schlimmsten – stehen wir also am Rand einer globalen Katastrophe?

Eigentlich hat sich der vernunftbegabte Medienbürger ja angewöhnt, bei Meldungen über angebliche Todesseuchen erst einmal Ruhe zu bewahren – immerhin ist keines der Horrorszenarien der letzten Jahre Wirklichkeit geworden. Die vorhergesagten 140 000 Opfer der Rinderseuche BSE blieben aus, genauso wie die Biowaffenangriffe des Saddam Hussein. Auch die deutschen Milzbrandanschläge von 2001 waren nur Spuk. Die Lungenkrankheit Sars tötete 2003 knapp tausend Menschen und versetzte monatelang die Welt in Panik vor einer Pandemie, dann verschwand der Erreger plötzlich und tauchte nie wieder auf. Das Vogelgrippevirus H5N1-Asia grassiert seit einem Jahrzehnt bei Wildvögeln und tötet ausnahmsweise auch Menschen – die befürchtete Influenza-Pandemie mit 100 Millionen Toten ist jedoch bislang ausgeblieben.

Durch all die Katastrophenmeldungen hat die Bevölkerung eigentlich einen gesunden Immunschutz gegen Seuchenalarmismus aufgebaut. Doch diesmal, so sagen die Behörden, soll es wirklich ernst sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rief am Montag erstmals Stufe vier der sechsstufigen Pandemiewarnung aus. WHO-Generaldirektorin Margaret Chan erklärte, der Schweinegrippe-Ausbruch habe „das Potenzial für eine Pandemie“. In Deutschland wurden die Krisenstäbe einberufen, Staat und Bürger rechnen mit dem Schlimmsten – stehen wir also am Rand einer globalen Katastrophe?

Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sieht es, trotz allem, noch nicht danach aus. Das neu entstandene Influenzavirus vom Typ H1N1 breitet sich außerhalb Mexikos, insbesondere in den USA, bislang langsamer aus und verursacht leichtere Erkrankungen als befürchtet. Trotz maximaler Wachsamkeit der Behörden wurden in den USA bisher nur rund 60, durchwegs harmlose Erkrankungen bestätigt (davon alleine rund 40 an einer Schule in New York), die alle auf Reisen nach Mexiko zurückgeführt werden konnten. Auch in anderen Ländern gab es nur leichte Fälle. Auf Basis der Angaben der mexikanischen Gesundheitsbehörden – rund 2000 Erkrankungen mit 150 Toten in drei Wochen – hätten wesentlich mehr und vor allem schwerere Erkrankungen auftreten müssen.

Für die Behörden hierzulande bedeutet dies keineswegs Entwarnung: Gerade wenn sich das Virus noch nicht sehr effektiv verbreitet, sind die Chancen für eine frühe Eindämmung am größten. Dass es am Flughafen Frankfurt noch immer keine Kontrolle von Einreisenden aus Mexiko gibt, ist deshalb nicht verständlich.

Warum das Schweinegrippe-Virus – das eigentlich längst ein Menschenvirus ist – bislang außerhalb Mexikos vergleichsweise harmlos auftritt, weiß gegenwärtig niemand. Möglicherweise verleihen die Grippeimpfungen der letzten Jahre, die gegen eine andere Sorte des Influenza-Typs H1N1 schützen, eine teilweise Immunität. Es ist auch denkbar, dass durchgemachte Infektionen mit dem weltweit verbreiteten menschlichen Virus vom Typ H1N1 vor dem Schweinegrippe-Virus schützen.

Einer anderen Theorie zufolge könnte sich das neue Influenza-Virus seit den ersten, schweren Fällen in Mexiko genetisch verändert haben und dabei weniger gefährlich geworden sein. Möglicherweise wird es auch nicht so leicht durch die Luft übertragen wie gewöhnliche Influenzaviren. Wenn diese Theorie stimmt, müsste das Virus nicht erst seit drei Wochen, sondern schon seit Monaten in Mexiko vorhanden gewesen sein.

Die Antwort auf das Rätsel des ungewöhnlichen Erregers liegt möglicherweise in einem kleinen mexikanischen Ort, 150 Kilometer östlich der Hauptstadt. Wie die mexikanische Regierung erst jetzt zugab, traten unter den bettelarmen Bewohnern der Siedlung La Gloria bereits seit Anfang März mysteriöse Fälle von Grippe mit gleichzeitigem Durchfall auf. Älteren Zeitungsberichten zufolge grassierte die Krankheit dort sogar schon seit Dezember 2008. Als am 5. April schließlich über die Hälfte der 3000 Einwohner erkrankt und zwei Kinder gestorben waren, gingen die Menschen von La Gloria auf die Straße. Sie waren sich sicher: Die Krankheit kommt von dem benachbarten Schweinemastbetrieb eines amerikanisch-mexikanischen Konzerns, dessen stinkende Abwässer das Trinkwasser verunreinigen. Einer der Demonstranten, ein kleiner Junge, trug ein selbst gemaltes Plakat mit einem durchgestrichenen Schwein vor sich her. Darüber hatte er geschrieben: „Peligro“ – das spanische Wort für Gefahr.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische

Mikrobiologie in Halle. Foto: J.Peyer

Alexander S. Kekulé

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