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Was WISSEN schafft: Ausweitung der Krankheitszone

Werden zu viele Kinder als psychisch gestört deklariert? Wird das Etikett „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) zu häufig aufgeklebt? Es wird leicht vergessen, dass eine Diagnose auch ein zivilisatorischer und humanitärer Fortschritt sein kann

Die Medien! In der einen Hälfte des Jahres sind Journalisten damit beschäftigt, psychische Störungen populär zu machen und als neue Volksleiden auszurufen. Etwa das Burn-out-Syndrom, das trotz seines englischen Namens eher eine mitteleuropäische Angelegenheit ist. In der anderen Hälfte des Jahres beschuldigen viele Medien dann den medizinisch-pharmazeutischen Komplex, neue Psycholeiden zu konstruieren und Gesunde für krank zu erklären. Zur Zeit sind wir so gesehen in der zweiten Jahreshälfte. In den USA hat die Neufassung des psychiatrischen Diagnosehandbuchs DSM viel Kritik hervorgerufen – Tenor: ungerechtfertigte Ausweitung der Krankheitszone –, und diese ist nach Deutschland herübergeschwappt.

Das seit 1994 gültige DSM-IV ist seit einigen Tagen durch den DSM-5 ersetzt, dessen arabische Ziffer andeutet, dass wohl bald ein DSM-5.1 ins Haus stehen dürfte. Was aber bedeutet das für Europa und Deutschland? Vermutlich weniger als befürchtet. Zum einen, weil im Rest der Welt das Klassifikationssystem ICD gilt, von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben und in der zehnten Fassung auf dem Markt. Die ICD ist übersichtlicher und klarer gegliedert als der DSM.

Trotzdem kann es natürlich sein, dass DSM-5 auch auf die geplante ICD-11 abstrahlt. Das ist erst mal nicht schlecht, denn nach fast 20 Jahren war es Zeit, die seit DSM-IV gemachten Fortschritte der Forschung zu berücksichtigen. Anders als von manchem Kritiker behauptet, ist dabei keine künstliche Inflation der Psycholeiden zu verzeichnen. Die Gesamtzahl der Diagnosen wächst nicht, die Krankheitsschwelle wurde eher erhöht als gesenkt.

Wahr ist aber auch, dass die Abgrenzung von gesund und krank im Bereich der seelischen Störungen oft viel schwieriger ist als in Gynäkologie, Chirurgie oder Innerer Medizin. Bluttests oder Röntgenbilder führen in der Psychiatrie eher selten zur Diagnose, das Skalpell nicht zur Heilung. Trotzdem gibt es klar umrissene Krankheiten und Syndrome, von Alzheimer und einem Alkoholentzugsdelir bis hin zum akuten Schub einer Schizophrenie oder einer mit Suizidgefahr einhergehenden Depression. An der Realität dieser Leiden gibt es leider keine Zweifel, DSM hin oder her.

Diagnostisch unsicherer und schwieriger sind die eher „weichen“ Störungen. Sie betreffen zumeist Menschen, die in eine Krise geraten sind oder denen der innere Halt fehlt, die mit sich und dem Leben (oder mit anderen) nicht zurechtkommen. Hier sind Medikamente eher selten vonnöten, Psychotherapie dagegen häufig hilfreich. Entscheidend ist, dass jemand Hilfe braucht, die Diagnose ist eher zweitrangig und gewissen Moden unterworfen. Sigmund Freuds „Hysterie“ etwa ist weitgehend ad acta gelegt worden, ebenso wie die „vegetative Dystonie“. Neurosen sind out, intensiv erforscht wird dagegen die „Posttraumatische Belastungsstörung“, und vom allgegenwärtigen Burnout war schon die Rede.

Vor diesem Hintergrund kann man natürlich trefflich darüber streiten, ob nicht viel zu viele Kinder als psychisch gestört deklariert werden und das Etikett „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) aufgeklebt bekommen. Aber dabei wird leicht vergessen, dass eine Diagnose auch ein zivilisatorischer und humanitärer Fortschritt sein kann. Ein Kind mit ADHS war in früheren Zeiten womöglich als „schlechter Charakter“ und geistig minderbemittelt abgestempelt. Heute wird es zum Glück nicht mehr abgesondert, sondern mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Therapie und Empathie statt Stigma und Strafe, keine ganz schlechte Idee.

Dass Menschen sich nicht an ihrer Diagnose stören, bekam jüngst der amerikanische Psychiater Thomas Insel zu spüren. Der Leiter des Instituts für Mentale Gesundheit der USA hatte in seinem Blog einen skeptischen Blick auf die rapide Zunahme autistischer Störungen bei Kindern geworfen, etwa auf Kalifornien, wo die Autismus- Diagnosen in den vergangenen 20 Jahren um das Zwölffache angestiegen sind. Gibt es wirklich eine Autismus-Epidemie, fragte Insel und verärgerte damit Autismus-Selbsthilfeorganisationen. Die kämpfen erbittert gegen das DSM-5, weil dieses die Diagnose Asperger, eine leichte Form von Autismus, praktisch gestrichen hat. Die Folge kann ein deutlicher Rückgang von autistischen Störungen sein. Zumindest auf dem Papier.

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