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Jörg Kachelmann steht wegen Vergewaltigung vor Gericht. Widersprüchliche Aussagen ziehen den Prozess in die Länge.

© rtr

Was Wissen schafft: Prüfung durch die Nullhypothese

Ein historisches Psychologie-Experiment beweist: Zeugen einer Straftat neigen dazu, falsche Aussagen zu machen - ohne Absicht. Das hat Konsequenzen. Im Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann stößt die Aussagepsychologie an ihre Grenzen.

Der Schuss fiel kurz vor Ende der Vorlesung. Ein Student will über christliche Moralphilosophie diskutieren, sein Kommilitone pöbelt dazwischen. Aus dem Wortgefecht wird eine Rauferei – plötzlich hält jemand eine Pistole in der Hand. Der Professor will den Arm des Schützen herunterdrücken, doch als der Revolver auf Brusthöhe des Kontrahenten ist, knallt es.

Der Vorfall, der sich am 4. Dezember 1901 im kriminalistischen Seminar der Berliner Universität zutrug, war nur gespielt. Der Strafrechtsprofessor Franz von Liszt hatte den Mord mit der Spielzeugwaffe inszeniert; danach wurden die schockierten Studenten als Zeugen vernommen. Das Ergebnis des berühmten „Überraschungsversuchs“ steht heute in den Lehrbüchern: Bereits am Abend machte ein Drittel der Zeugen grob fehlerhafte Angaben. Eine Gruppe, die erst fünf Wochen später befragt wurde, brachte es auf eine Irrtumsrate von 80 Prozent. Es gab nicht nur Erinnerungslücken, sondern auch detaillierte Erinnerungen an Vorgänge, die gar nicht stattgefunden hatten: An Worte, die nie gefallen waren, an einen Fluchtversuch des Opfers, den es nicht gab und vieles mehr. Das Experiment hatte der deutsche Psychologe William Stern vorgeschlagen (der später den Intelligenzquotienten erfand). Stern und von Liszt forderten damals, Gerichte sollten sich von Sachverständigen beraten lassen, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Zeugen geht – die Geburt der wissenschaftlichen „Aussagepsychologie“.

Vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe ist dieser Tage ein Feuerwerk der modernen Aussagepsychologie zu bewundern: In der Strafsache Jörg Kachelmann wurden bereits mehr als zehn Gutachten vorgelegt – mit teilweise diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Die Exfreundin des Wettermoderators behauptet, mit einem Messer bedroht und vergewaltigt worden zu sein. Da Aussage gegen Aussage steht, entscheidet die Glaubwürdigkeit der Zeugin über Freispruch oder mehrjährige Freiheitsstrafe. Doch wie kann man feststellen, ob die einzige Belastungszeugin die Wahrheit sagt?

Unter Juristen, die ja für alle Lebenslagen einen Sinnspruch haben, gilt bereits bei Aussagen unbeteiligter Zeugen: „Redlich, aber falsch.“ Noch schwieriger wird es, wenn – wie im aktuellen Fall – die Zeugin zugleich mutmaßliches Opfer ist und traumabedingt falsche Erinnerungen haben könnte. Wenn es dann auch noch Hinweise auf eine motivgeleitete Aussage gibt, etwa aus Rache, ist die Glaubhaftigkeit mit psychologischen Methoden kaum noch feststellbar.

Zur Lösung dieses Problems hat der Bundesgerichtshof (BGH) 1999 festgelegt, dass in Glaubhaftigkeitsgutachten zunächst davon auszugehen ist, dass der Zeuge die Unwahrheit sagt. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass diese „Nullhypothese“ mit den „erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann“, wird sie verworfen und es gilt die Alternativhypothese, nämlich dass die Aussage wahr ist.

Die von Juristen gelobte Leitlinie des BGH mag wissenschaftstheoretisch korrekt sein, sie scheitert jedoch an der Praxis: Ein Lügner kann durch Beweise überführt werden. Doch welche „erhobenen Fakten“ könnten beweisen, dass jemand nicht die Unwahrheit sagt?

Der BGH verweist dafür auf Binsenweisheiten, etwa dass Lügner oft weniger Details schildern, entlastende Fakten weglassen oder sich selbst widersprechen. Diese sogenannten „Realkennzeichen“ sind jedoch bestenfalls geeignet, schlechte Lügner zu überführen – einer raffinierten Falschaussage ist damit nicht beizukommen. Wenn Traumata, Autosuggestion oder Fremdbeeinflussung (etwa bei Kindern) hinzukommen, lässt sich die Nullhypothese, dass der Zeuge die Unwahrheit sagt, nicht widerlegen – außer durch Beweismittel außerhalb der Psychologie, etwa eine Videoaufzeichnung oder eine DNA-Spur an der Tatwaffe.

In der Strafsache Kachelmann sprechen die kargen DNA-Spuren nicht für den Tatvorwurf, zudem machte die Zeugin falsche und widersprüchliche Aussagen. Der Fall hat also gute Chancen, als weitere berühmte Inszenierung in den Lehrbüchern zu landen.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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