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Was WISSEN schafft: Wunder gibt es immer wieder

In der Medizin sind unerklärliche Spontanheilungen an der Tagesordnung. Das "Wunder erster Klasse", also ein wissenschaftlich belegter Eingriff Gottes in die Gesetze der Natur, ist allerdings ein wunder Punkt. Das weiß auch der promovierte Papst.

Der Papst macht es aufgeklärten Katholiken dieser Tage wieder einmal besonders schwer. Im französischen Lourdes feiert Benedikt XVI. das 150-jährige Jubiläum eines angeblichen Wunders. Ist das noch zu glauben?

Im Februar 1858 will die 14-jährige Bernadette Soubirous hier in einer Grotte eine weibliche Lichtgestalt mit blauem Gürtel und rosenbesetzten Schuhen gesehen haben. Doch dem bettelarmen Mädchen glaubt zunächst niemand. Also nimmt sie immer wieder Menschen zu der Grotte mit, wo ihre Visionen immer ekstatischer werden. Sie suhlt sich im schlammigen Boden, trinkt das hervortretende Wasser, frisst Gras wie ein Tier. An Mariä Verkündigung, dem 25. März, wird sie bereits von tausenden Gläubigen und Schaulustigen begleitet – da hört sie von der Erscheinung den entscheidenden Satz: „Ich bin die unbefleckte Empfängnis.“

Das machte den Vatikan hellhörig. Papst Pius IX. hatte vier Jahre zuvor das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens verkündet – und dafür Gelächter von der säkularisierten Welt des 19. Jahrhunderts geerntet. Ein Marienwunder als Beweis für die katholische Lehre kam da gerade recht. So wurde Lourdes zum florierenden Wallfahrtsort – und zur wahren Wundermaschine: Pilger berichten von tausenden angeblichen Spontanheilungen, 67 hat die Kirche bislang offiziell als Wunder anerkannt.

Natürlich weiß auch der promovierte Papst, dass die Sache mit den Wundern ein wunder Punkt ist – im Zeitalter von Videoaufzeichnung, Vorratsdatenhaltung und DNA-Analyse können Taschenspielertricks schnell auffliegen und peinlich für die Kirche werden. Im Februar ermahnte der Vatikan die Bischöfe deshalb zu mehr Strenge bei der Anerkennung von Wundern, insbesondere im Zusammenhang mit den Seligsprechungen. Die werden neuerdings von Bischöfen vor Ort durchgeführt, denen die Förderung des lokalen Pilgertourismus zuweilen sehr am Herzen liegt.

Das erforderliche „Wunder erster Klasse“, also ein wissenschaftlich belegter Eingriff Gottes in die Gesetze der Natur, konnte früher noch relativ einfach behauptet werden. Bis ins 18. Jahrhundert waren etwa Levitationen (Schwebungen) beliebte Gründe für die Heiligsprechung. Marienerscheinungen wie in Lourdes gab es ebenfalls zuhauf, solange weder Foto noch Film existierten und Zeugenaussagen das einzige Beweismittel waren.

Heute werden Scheinheilige zuweilen sogar entlarvt: Padre Pio etwa, der von Papst Johannes Paul II. 2002 kanonisierte Volksheilige Italiens, hatte die blutenden Stigmata an seinen Händen offenbar mit Säure gefälscht, wie sich herausstellte. Seit den siebziger Jahren ist das physikalische Weltbild so weit geschlossen, dass Levitationen, Erscheinungen und andere paranormale Phänomene nicht mehr wissenschaftlich bewiesen werden können – der Kirche gehen die Wunder aus. Die sind aber, außer bei Märtyrern, für Selig- und Heiligsprechungen zwingend erforderlich. Außerdem gelten sie fundamentaltheologisch als Beweise für die Existenz Gottes.

In dieser Notlage sind ungewöhnliche Heilungen zur beliebtesten Spezies der Wunder geworden. Für die bevorstehende Seligsprechung von Johannes Paul II. wurde eine französische Ordensfrau gefunden, die der Pole nach seinem Tod von Parkinson geheilt haben soll. Für die Heiligsprechung von Mutter Teresa suchen ihre Anhänger derzeit nach einem zweiten Heilungswunder (das für die Seligsprechung als Wunder anerkannte Verschwinden eines Eierstocktumors darf nicht noch einmal herangezogen werden). Die Chancen für den ehemaligen Papst und die Nobelpreisträgerin aus Kalkutta stehen nicht schlecht: In der Medizin sind unerklärliche Spontanheilungen an der Tagesordnung. Ob sich das Immunsystem im letzten Moment einen Ruck gab oder die ursprüngliche, fatale Diagnose falsch war, lässt sich im Nachhinein oft nicht mehr feststellen.

In Lourdes hat die Kirche für die wissenschaftlich einwandfreie Feststellung von Wunderheilungen inzwischen eine feste Kommission eingerichtet. Deren Vorsitzender ist erzkatholisch und studierte Medizin an der katholischen Fakultät in Lille. Für Nachschub aus der Wundermaschine dürfte also gesorgt sein.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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