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Was WISSEN schafft: Zucker für bin Laden

Wie ein CIA-Plan die Impfung gegen Polio diskreditiert hat.

Die Lage war sehr kompliziert und sehr ernst. Seit Monaten observierte der US-Geheimdienst CIA einen Mann, der in einem ungewöhnlich gut gesicherten Familienhaus ein- und ausging. Die Lage war kompliziert, weil das Haus in Bilal stand, einem wohlhabenden Vorort von Abbottabad. Hier, direkt neben der Militärakademie, hat Pakistans Geheimdienst ISI seine Augen überall – und der durfte von der Operation der US-Kollegen nichts erfahren. Die Lage war ernst, weil man in dem Haus Osama bin Laden vermutete.

Es war März 2011, zwei Monate bevor die Navy Seals bin Ladens Haus stürmten. Vor dem Zugriff musste die Weltmacht sicher sein, dass sich der Staatsfeind Nummer eins tatsächlich hier versteckt hielt. Doch wie kann man die Anwesenheit eines Menschen beweisen, der das Haus nie verlässt, sich nicht am Fenster zeigt und auch kein Telefon benutzt?

Für diese Mission Impossible ersannen die Spione eine List. Sie hatten beobachtetet, dass Krankenschwestern in das Anwesen gelassen wurden, um die dort wohnenden Kinder gegen Polio zu impfen. Die CIA vermutete, dass der Top-Terrorist mit mehreren seiner Frauen und Kinder zusammenlebte. Von einer Schwester bin Ladens, die vor einiger Zeit in Boston gestorben war, hatte man Gewebeproben für einen DNA-Vergleich eingefroren. Jetzt brauchte man nur noch einen Tropfen Blut von einem der Kinder.

Dafür sprachen die US-Agenten den pakistanischen Arzt Shakil Afridi an, der seit Jahren Impfkampagnen organisiert und mit der renommierten Hilfsorganisation „Save the Children“ zusammengearbeitet hatte. Doktor Afridi war in Schwierigkeiten geraten, weil er angeblich Patienten zu viel Geld abnahm und bei Operationen gepfuscht hatte. Wegen sexueller Übergriffe auf eine Krankenschwester durfte er ein halbes Jahr nicht praktizieren. So jemand ist die perfekte Besetzung eines willfährigen Gehilfen der Geheimdienste, nicht nur in Hollywood.

Um keinen Verdacht zu erwecken, begann Afridi die Kampagne in einem Armenviertel von Abbottabad. Dann zogen die Schwestern weiter nach Bilal, wo das Haus bin Ladens stand. Im Koffer hatten sie diesmal keine Zuckerstückchen gegen Polio, sondern einen Impfstoff gegen Hepatitis B, der gespritzt werden muss: Mit den Blutresten an den Nadeln wäre es ein Leichtes gewesen, Verwandte bin Ladens zu identifizieren.

Ob der raffinierte Plan aufging, wird die Welt vorerst nicht erfahren. Nach offiziellen US-Angaben hat Afridi zur Ergreifung bin Ladens nichts beigetragen. Er wurde trotzdem in Pakistan zu 33 Jahren Haft verurteilt. Die Auswirkungen für das Polio-Impfprogramm sind jedenfalls verheerend. Während Indien gerade das erste Jahr ohne neuen Polio-Fall feiert, haben sich die Neuerkrankungen in Pakistan verdreifacht. Auf jeden der 198 gemeldeten Fälle kommen etwa 200 symptomlose Virusträger. In Abwasserproben pakistanischer Städte ist der Erreger regelmäßig nachweisbar. Wie in Afghanistan und Nigeria, den anderen beiden verbliebenen Polio-Herden der Erde, verbreiten islamische Fundamentalisten schon lange, die Impfung gegen Kinderlähmung sei eine List des Westens, um muslimische Mädchen zu sterilisieren und Aids zu verbreiten. Einige Imame predigen sogar, die Impfung sei unrein im Sinne des Korans.

Nach jahrelanger Vorarbeit war es „Save the Children“ und anderen Hilfsorganisationen zuletzt gelungen, das Vertrauen der afghanischen und pakistanischen Taliban zu gewinnen. Als Reaktion auf die US-Geheimoperation stoppten die Taliban jetzt mehrere Polio-Impfkampagnen – dass es bei der CIA-Finte gar nicht um Polio ging, spielt in der aufgeladenen Debatte keine Rolle. Die Weltgesundheitsorganisation befürchtet inzwischen, dass sich die Kinderlähmung jetzt wieder über die Grenzen nach China und Tadschikistan ausbreiten könnte.

Das Vertrauen in humanitäre Hilfsorganisationen darf nicht für Spionagezwecke verspielt werden. Früher galt bei der CIA die Regel, dass Agenten keine humanitären Organisationen als Tarnung benutzen dürfen. Darauf sollten sich die Dienste wieder besinnen, auch in Deutschland: Im Januar wurden drei Agenten des Bundesnachrichtendienstes in Pakistan verhaftet – sie hatten sich als Entwicklungshelfer ausgegeben.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Foto: J. Peyer

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