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Meinung: Weihnachten 2001: Damit die Seele nachkommen kann

Dieses Jahr könnte man Weihnachten auch ausfallen lassen. Wenn das Fest des Herrn daran erinnern soll, dass die Liebe das letzte Wort haben muss - wer braucht es dann in diesem Jahr?

Dieses Jahr könnte man Weihnachten auch ausfallen lassen. Wenn das Fest des Herrn daran erinnern soll, dass die Liebe das letzte Wort haben muss - wer braucht es dann in diesem Jahr? Zu laut klingen uns noch die vielen letzten Botschaften derer im Ohr, die sich am 11. September per Handy aus den Zwillingstürmen oder den Flugzeugen gemeldet haben. Sie alle sandten, den Tod vor Augen, als letzten Gruß ähnliche Worte an die Hinterbleibenden: Ich liebe dich, ich liebe euch.

Dabei ist der bevorstehende Bundeswehreinsatz am Hindukusch imWenn der Heilige Abend die Menschen wieder näher aneinander rücken soll, wer braucht ihn dann im Jahre 2001? Waren die Menschen einander in den vergangen Monaten nicht näher als sonst, angenehm nah, zum Bersten nah mitunter? In den westlichen Ländern fühlte man sich physisch bedroht und kulturell angegriffen. Natürlich haben die Politiker, haben überhaupt alle Verantwortlichen gesagt, es handle sich nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern nur um einen Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus. Trotzdem haben die Attentate von New York und Washington zu einer Selbstvergewisserung geführt über die eigenen Werte. Die Freiheit des Individuums war uns zur Selbstverständlichkeit geworden wie dem Fisch das Wasser. Das war vorschnell, es war auch angenehm. Doch Freiheit ohne Kampf, das ist nun wieder greifbar, gibt es nicht. Erinnert hat der islamistische Angriff auch an die eigene Religion, das Christentum - ohne das es so etwas Extravagantes wie das Individuum gar nicht gäbe. Ins Gedächtnis gerufen wurde der Gott, an den viele nicht mehr, aber immer noch mehr glauben als an jeden anderen.

Weihnachten könnte in diesem Jahr auch deswegen ausfallen, weil das Fest Gelegenheit geben soll, die Prioritäten des Lebens wieder in Ordnung zu bringen. Dass das Äußere nicht das Eigentliche sein kann, dass selbst ein kluger Egoismus ohne absichts- und selbstlose Hinwendung zum Anderen nicht auskommt, konnte man an jenem sonnigen Dienstag in New York schmerzlich sehen. Es waren unerträgliche Bilder, als panische Menschen Hand in Hand aus dem Fenster sprangen. Danach haben in den USA einige ihren Job gekündigt, weil sie unter ihren Kollegen niemanden hatten, mit dem sie im Zweifel Hand in Hand weggehen würden. Ein sentimentaler, ein fast bedrückender Gedanke ist das - und eine extreme Liebesanforderung, wie sie ansonsten nur an Familienfeste, besonders zu Weihnachten, gerichtet wird, um dann alle Beteiligten regelmäßig zu überfordern.

Natürlich fällt Weihnachten in diesem Jahr nicht aus. Es könnte gar nicht ausfallen, selbst wenn alle Geschenke, alle Weihnachtsmänner und alle Christbäume mit einem Schlag verschwinden würden. Der 24. Dezember ist so unvergessbar und unfliehbar wie kein anderes Datum im Jahr. Und dann ist es in Wahrheit ja auch umgekehrt: Wir brauchen Weihnachten in diesem Jahr nicht weniger als sonst, sondern mehr. Seit dem 11. September haben sich die Ereignisse beschleunigt wie selten im Leben der Nachkriegsgenerationen: Der Anschlag, die Angst vor weiteren Anschlägen, der erfolgreiche und fürchterliche Krieg in Afghanistan. Dabei geht es vielen nun so, wie den australischen Ureinwohnern. Wenn die mit dem Flugzeug geflogen sind, setzen sie sich am Zielort erstmal hin und warten, damit die Seele hinterherkommen kann. Die Menschen in den westlichen Ländern brauchen Weihnachten in diesem Jahr vor allem dafür - damit die Seele nachkommen kann.

Wahrscheinlich fiel es in dieser Adventszeit deswegen so schwer, weihnachtliche Gefühle zu entwickeln, weil die Ereignisse einfach nicht aufhörten. Zwei Tage vor Heiligabend, 48 Stunden vor der Bescherung, beschloss der Bundestag, deutsche Soldaten nach Kabul zu schicken. Zu der Zeit war ganz Deutschland einkaufen. Das Weihnachtsgeschäft lief übrigens gut. Die Leute hatten Geld in den Taschen, weil sie in den Monaten nach dem 11. September weniger gekauft haben. Jetzt also sind alle entschlossen, sich diese paar Tage zu gönnen. Sie wollen sich das Fest herausnehmen aus 2001, aus einem ein Jahr, das man so nicht noch einmal erleben möchte.

Darum in diesem Jahr erst Recht: Frohe Weihnachten.

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