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Ein listiger Güterabwäger: Papst Benedikt XVI.

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Weihnachtsessay: Du musst jetzt sehr tapfer sein

Wie viel Kompromisse verträgt das höchste Gut? Oder: Die Wohlfühlbalance zwischen familiärer Weihnachtsmeckerei und Selbstverwirklichung, Friedensgesülze und frommem Überbau.

Wer die Priorität des höchsten Gutes infrage stellt, banalisiert das Leben – und macht am Ende alles verkehrt. Oder muss man in der moralischen Zwickmühle Wichtiges und Wichtigstes gegeneinander ausspielen: beispielsweise „ideale Liebe“ gegen „ungefährdete Sexualität“?

Meistens funktioniert die Alltagsübung „Güterabwägung“ ohne schlimme „Kollateralschäden“: So nennt die Militärpropaganda unerfreuliche Nebeneffekte ihrer Zielkonflikte. Harmlose Zwickmühlen sind jedem vertraut. Das berühmteste Couplet zu dem Thema – Güterabwägung, heitere Version! – handelt von einem prächtigen Überzieher, den sich Herr Fichte zum Winteranfang kaufte, was ihn am Tisch seines Gasthauses, wo man für Garderobe nicht haftet, unter Druck setzt: Soll er entspannt speisen – oder sich stetig umdrehen, das gute Stück bewachen? Auf die Toilette gehen – und dabei den Verlust riskieren? Otto Reutters berühmte Verse lassen die Panik des stolzen Mantelbesitzers fatalistisch ins Malheur eskalieren. Wie man’s dreht: Es geht schief.

Von außen sieht so eine Zerreißprobe komisch aus. Doch als jüngst Papst Benedikt XVI. in einem Interview erstmals tatsächlich die Option „Güterabwägung“ vorschlug für einen zwischenmenschlichen Konflikt, den bislang pontifikale Äußerungen vor allem mit dem größten Übel „Banalisierung der Sexualität“ verbunden hatten, war das nicht komisch gemeint. Es ging auch hier um ein Überzieher-Thema. Allerdings: Wo das höchste Gut bedroht scheint, hört der Spaß auf.

Für Politiker und Haushälter ist das Abwägen von Vor- und Nachteilen eine Kompromissroutine. Wollten Utopie-Propheten von vornherein so pragmatisch, auf der Ebene kleinster Realo-Brötchen, predigen, verlöre ihr Ideal gleich an Strahlkraft. Aber auch sie müssen die Umsetzungschancen bedenken. Als der verfolgte Dissident Martin Luther 1521 von der Wartburg aus seinem Mitstreiter Melanchthon christliche Hoffnungen schilderte, spitzte er zugleich den Kontrast der relativierenden Wirklichkeit drastisch zu. Dieses Leben sei kein Quartier der Gerechtigkeit, vielmehr „erwarten wir den neuen Himmel und die neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“, schrieb Luther, trotzdem trenne keine Sünde den Gläubigen von der Barmherzigkeit Christi, „selbst wenn wir tausend tausend Mal an einem Tag huren oder morden“. Ob derartige Kollateralschäden Sachzwängen geschuldet seien oder menschlicher Schwäche, erörtert der 37-Jährige nicht. Ihm geht es darum, die Zwickmühle zu akzeptieren: „Sündige tapfer!“ heißt seine umstrittene Parole, und – das treibt den Mönch Luther – vertraue umso optimistischer auf die Gnade der Erlösung.

Papst Benedikt XVI: ein listiger Güterabwäger

„Augen zu und durch, alles wird gut“ – wäre das Luthers Position, übertragen ins Säkulare, Postmoderne? Für Zuschauer mit anderen Werten ist solche innere, spirituelle Dramatik schwer nachzuvollziehen. Güterabwägung, ernste Version: Ein denunzierter Pfarrer der Bekennenden Kirche kommt 1942 vor Gericht, wird nicht verurteilt, soll sich aber verpflichten, künftig nicht mehr zu predigen – dann dürfe er zu seiner Frau und den beiden kleinen Kindern zurück. Er ringt um die richtige Entscheidung, fühlt sich durch sein Amt und biblische Vorbilder („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“) aber zur Verkündigung verpflichtet; lehnt den Kanzelverzicht ab und kommt ins Konzentrationslager; wird 1945 befreit, aber bald nach seiner Heimkehr stirbt seine Frau an Herzversagen. Diese Gewissensentscheidung zugunsten des großen Ganzen kann auf Beobachter ohne religiöse Bindung respektabel wirken. Zu verstehen ist sie kaum.

Als vor vier Wochen Zitate Papst Benedikts zur Sexualität aus einem neuen Interviewbuch erschienen, registrierten viele Medien, dass hier zumindest – bei einem sonst vom Vatikan eher theoretisch abgehandelten Thema – Realitätsbezug anklinge. Noch Ratzingers Vorvorvorgänger Paul VI. hatte 1966 in einem Interviewbuch vor allem betont, die Kirche wolle „das Wirkliche, das Wesentliche der menschlichen Liebe retten“. Schrecklicherweise trenne die moderne Technik Liebe und Fruchtbarkeit, weil das „manchmal aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen notwendig“ sein solle. Man müsse aber wissen, wie „abnorm und gefährlich“ so eine Trennung wirke, man rühre dabei „an die Wurzel des Lebens“. Bald darauf wurde Roms Ablehnung künstlicher Verhütung durch die Enzyklika „Humanae vitae“ zur Provokation. Dass derselbe, fortan als Pillen-Paul diffamierte Papst sich später geäußert haben soll, man könne „die Pille“ doch auch als Hormonpräparat nehmen, ist weniger bekannt. Güterabwägung, listig – durch die Hintertür?

Papst Benedikt XVI., bei dessen Amtsantritt bereits, Jahrzehnte später, der Streit um die HIV-Prävention den Verhütungsdiskurs überschattete, idealisierte in seiner Antritts-Enzyklika die Einheit von Leib und Seele: Der Mensch verliere seine Würde, wenn er nur Geist sein wolle und den Leib als „animalisches Erbe“ abtue. Andererseits werde der zum „Sex“ degradierte Eros zur Ware: wo man „die Geschlechtlichkeit als das bloß Materielle an sich (…) kalkulierend einsetzt und ausnützt“. Richtig verstandener Eros wolle uns „zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen“ – durch Verzichte.

Auch als der Papst 2009 auf seinem Flug nach Kamerun mit Journalisten sprach, unterstrich er diese „Humanisierung der Sexualität“ und sagte, „Seele“ und „Verantwortung“ der Afrikaner müssten beteiligt sein – sonst würden Präservative das HIV-Problem nur vergrößern. Auf den prompt folgenden medialen Aufschrei reagiert nun im Interviewbuch „Licht der Welt“ der Güterabwäger. Unter der Überschrift „Diktatur des Relativismus“ sagt Ratzinger: „Die Banalität des Sich-einfach-treiben- Lassens“ werde der Größe des Menschseins nicht gerecht. „Bloße Fixierung auf das Kondom“, heißt es beim Thema Afrika, banalisiere die Sexualität, lasse sie statt als „Ausdruck der Liebe“ als „Droge“ erscheinen. Gegen ihre „Banalisierung“ müsse man kämpfen, damit sie ihre „positive Wirkung im Ganzen des Menschseins“ entfalte.

Zwei Tage ab Heiligabend ruhten 1914 die Waffen

An diesem Punkt springt das Statement von der Abstraktion auf die Ebene des „begründeten Einzelfalls“: Wenn „ein Prostituierter ein Kondom verwendet“, könne dies ein erster Schritt „zu einer Moralisierung sein (…) ein erstes Stück Verantwortung, um wieder ein Bewusstsein zu entwickeln, dass nicht alles gestattet ist (…) auf dem Weg zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität“. Güterabwägung – katholisch?

Stutzig macht Benedikts Ausnahme-Exempel: Statt ein eher bürgerliches Szenario in Ehe und Gemeinde zu skizzieren, unterstellt er, mit dem (nach katholischen Kriterien) doppelt verwerflichen Kontext „praktizierte Homosexualität“ und „Prostitution“, dass solche Zwickmühlen vor allem jene betreffen, die ein richtiges Leben im falschen führen wollen. Freilich muss der Papst auch Widersprüche seines dialektischen Chefs harmonisieren, der zwar einer Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte, das Radikalprogramm „Sündige von jetzt an nicht mehr!“ mitgibt, andererseits aber Zöllner und Huren – sagen wir heute: Spekulanten und Stricher! – bei der Einladung ins „Reich Gottes“ bevorzugen will. Müssten diese Geladenen für den Eintritt zunächst den Beruf wechseln? Oder reicht ein erster Schritt à la: Sei etwas netter zu deinem Mann!? Mach eine gemeinnützige Spende!? Nimm wenigstens ein Kondom!?

Ob die Verwandlung der Welt eher revolutionär, mit Pauken und Trompeten, oder prozessual peu à peu beim richtigen Marsch durch das falsche System passiert, bleibt unter Weltverbesserern und Endzeitgläubigen umstritten. Ein absurdes Beispiel für den evolutionären Prozess und das absurde Zwickmühlen-Leben im falschen war der Weihnachtsfrieden anno 1914. Damals legten in Flandern Landser und Offiziere des Ersten Weltkriegs ab Heiligabend die Waffen nieder. Erst wollten sie nur in Ruhe Päckchen öffnen: Deutsche Kuchen wurden ins Niemandsland befördert, man bat um Feuerstopp zum Singen, sobald Kerzen am Grabenrand angezündet seien. Die Briten applaudierten, sangen eigene Lieder, während die Deutschen Tännchen postierten. Man ging unbewaffnet zwischen die Fronten, beerdigte Tote, unterhielt sich. Ein Ball wurde gekickt, 3:2 für die Hunnen. Gemeinsamer Gottesdienst. Tausch von Tabak, Bier, Plumpudding. Man zeigt sich Familienfotos.

Rund 100 000 Soldaten pausieren zwei Tage; zum Ärger der Heeresleitung, die 1915 eine Wiederholung verhinderte. Das für Pazifisten zwiespältige Agieren der Krieger, die statt zu desertieren nur innehielten, liest sich heute auch als Parabel auf den zynischen saisonalen Interimsschmus der XmasGesellschaft.

Eigentlich war der Satz vom richtigen Leben im falschen System – bei dem wir Deutschen prompt das Überleben in der DDR- oder in der NS-Zeit, als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, assoziieren – 1944 geprägt worden durch Theodor W. Adorno. Seine Überlegung „Asyl für Obdachlose“, enthalten in den „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, analysiert jedoch nicht den heimlichen Widerstand im Totalitarismus, sondern das Dilemma privater Wohnkultur. Dieser scheinbar geschmäcklerische Bezug hat dem Soziologen, als die Texte vor zehn Jahren neu ediert wurden, postumen Spott eingebracht, zumal seine im Exil brieflich mitgeteilten Komfortwünsche („große Badewanne zum Ausstrecken“) bourgeoise Klischees bedienten.

Schiefe Lieder, innige Floskeln, echter Flitter

„Jeder Zug des Behagens“ werde „mit Verrat an der Erkenntnis“ bezahlt, schildert der Bürgersohn den Zwiespalt zwischen Gesinnung und traditioneller Einrichtung, sieht aber auch das zum Ornament degenerierte Bauhaus kaum als Lösung an: „Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“ Für den Linken auf ästhetischer Herbergssuche bleibt Privateigentum, das man zur Unabhängigkeit nun mal benötige, ein Solidaritätsproblem. Mit „Nichtachtung für die Dinge“ oder „schlechtem Gewissen“ könne man sich da nicht hinausmogeln: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ In der Erstfassung hieß das: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“

Thomas Lackmann ist Mitarbeiter des Tagesspiegels.
Thomas Lackmann ist Mitarbeiter des Tagesspiegels.

© privat

Kann der Einzelne gleichwohl, trotz nötiger Abstriche, das kollektive Ganze im Blick behalten? Die katholische Kirche, deren dogmatische Formeln eigene Glaubensziele himmelhoch idealisieren, verfügt zwar auf dem nüchternen Feld Güterabwägung über verschiedene, mitunter beschämende Erfahrungen: vom Schweigen oder Handeln Pius XII. im „Dritten Reich“ über die kuriale Ostpolitik hinterm Eisernen Vorhang bis zur Debatte von Abtreibungsindikationen, zur Missbrauchsvertuschung oder zum Umgang mit Chinas schismatischer Patriotischer Kirche. Doch die gläubige Suche nach dem besten Kompromiss ist hier mehr als eine Erfolgstechnik des Apparats, nämlich auch: theologische Konsequenz aus dem Weihnachtsmysterium Inkarnation.

Wenn – wie das Credo kühn behauptet – Schöpfer und Kreatur, Allmacht und Ohnmacht sich verbinden, wenn universale Werte und Identitätssehnsucht des Individuums zueinanderfinden, gehören die Synchronisierungsstrapazen dazu. Eine moraltheologische „Kasuistik“, die meint, bei der Fleischwerdung göttlicher Liebe dem Menschen die Anpassungsdetails genehmigen zu müssen, macht ihn klein. Andererseits überfordert ihn wohl jene subjektive „Situationsethik“, die das Gewissen ausschließlich dem persönlichen Ad-hoc-Impuls überlässt: ohne Orientierung am Stern eines großen Ganzen.

„Christ you know it ain’t easy“, spottete der Beatles-Poet Lennon 1969 in „The Ballad of John and Yoko”: über jene Härten der Menschwerdung, die Theologen mit dem griechischen Abstiegsbegriff Kenosis (= Entäußerung) beschönigen. Wer sich trotzdem, auf den Spuren solcher Menschwerdung, anschickt, die Wohlfühlbalance zwischen familiärer Weihnachtsmeckerei und Selbstverwirklichung, Friedensgesülze, Konsumerschöpfung und frommem Überbau auszuloten, den darf das Banale (= das Alltägliche, Platte, Inhaltsleere, Oberflächliche) so wenig schrecken wie die finale, höchstens per Super-Kondom zu leistende Entsorgung eines nadelnden Baums aus dem vierten Stock.

Aber so weit sind wir noch gar nicht! Ertrage, o Wanderer auf dem Kenosis-Trip, das ästhetische Sodbrennen und den Wahnsinn der unersättlich tobenden süßen Kleinen – fürchte dich nicht, eine Wiederholung des Kindermords zu Bethlehem ist vermeidbar. Weihnachten heißt Güterabwägung; manchmal verwischen dabei, in den Niederungen der Menschwerdung, Trennlinien zwischen Optimismus und Fatalismus. Hinter der Tür, die du jetzt öffnest, warten vergiftete Paradiese der Gewohnheit, schiefe Lieder, innige Floskeln, echter Flitter, das höchste Gut und ein Versprechen von Intimität. Wie man’s dreht, es geht: Du musst jetzt sehr tapfer sein.

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