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Meinung: Wenn du weit kommen willst, geh mit anderen

50 Jahre Europa: Deutschland muss der Versuchung widerstehen, Außenpolitik ohne Geschichtsbewusstsein zu betreiben

Von Wolfgang Schäuble stammt das vor der Kulisse der Geschichte geradezu wunderbare Wort, über Deutschland und Europa müsse man „eigentlich von morgens bis abends froh“ sein. In der Tat: Die europäische Integration hat bewirkt, was lange unerreichbar schien, nämlich Europa mit Deutschland und Deutschland mit Europa vereinbar zu machen. Insofern ist es das richtige Symbol, dass der Gipfel zum 50. Geburtstag der EU am kommenden Wochenende in Berlin stattfindet. Er soll nach dem Willen der Kanzlerin nach vorn blicken. Aber das muss, wenn es gelingen soll, begleitet sein von der steten Reflexion der Geschichte, der eigenen wie der der anderen.

Kenntnis von und Rücksichtnahme auf geschichtliche Zusammenhänge ist ein Gebot der Klugheit für die Außenpolitik aller Staaten. Für Deutschland in Europa gilt es in besonderem Maße. Erstens wegen der zwölf Hitler-Jahre; zweitens, weil die Bundesrepublik das Land mit dem größten Gewicht in der Europäischen Union und mit den meisten Nachbarn ist; schließlich, weil deutsche nationale Interessen auf Dauer nur im Verbund mit diesen Partnern in einer europäischen Außenpolitik verwirklicht werden können.

Die Schatten der Nazi-Geschichte auf Deutschland werden länger und schwächer wie zu erwarten und zu begrüßen. Verschwinden werden sie noch lange nicht. Allerdings ist Geschichte, auch diese, mehr als nur eine bleibende Bürde. Sie ist auch im positiven Sinn für die deutsche Außenpolitik zum bestimmenden Einfluss geworden. Ohne den dunkelsten, schmerzlichsten Schatten seiner Geschichte wäre Deutschland nicht zentraler Partner und Antreiber der europäischen Einigung geworden und geblieben. Nicht nur die Erfahrung von Niederlage und Zerstörung am Ende dieses zweiten Dreißigjährigen Krieges haben uns zu Europäern gemacht, es musste das kollektive wie individuelle Entsetzen über alles, was mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, hinzukommen.

Die Hauptmotivation für die europäische Integration lag in der Erkenntnis, dass die europäischen Völker nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich nicht mehr gegenseitig zerstören. Nur ist diese Erkenntnis nicht neu; sie war schon im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg verbreitet. Dass sie nach dem Zweiten endlich verwirklicht werden konnte, war auch eine Wirkung des Holocaust. Das Entsetzen darüber brachte all jene Kräfte zum Verstummen, die mit völkischer Verquastheit, Deutschtümelei, Revanchegelüsten und antisemitischem Hass die Außenpolitik der Weimarer Republik torpedierten und dasselbe Schicksal auch der Bonner Europa-Politik hätten bereiten können.

Der Weimarer Außenminister Gustav Stresemann, der 1926 zusammen mit seinem französischen Amtskollegen Briand für den Vertrag von Locarno den Friedensnobelpreis erhielt, beschreibt in seiner Osloer Dankesrede, wie die deutsche Stimmungslage damals die Möglichkeiten deutscher Versöhnungspolitik beschnitt. „Ein Volk, das durchgemacht hat, was das deutsche Volk durchgemacht hatte, bietet naturgemäß einen Nährboden für die Extreme. Die beste Mittelladung des deutschen Schiffes, die es vor harten Schwankungen bewahrte, die unendlich wertvolle staatsbürgerliche Mittelschicht der Vergangenheit, ist nicht mehr vorhanden. Die entwurzelten Existenzen sehen ihr Heil in einer völligen Umkehrung der Dinge.“ Das deutsch-französische Einverständnis damals wurde von „den Extremen“ bekämpft und schließlich zerstört.

Wenn dagegen die Bundesrepublik den Weg der europäischen Integration unbeirrt einschlagen und verfolgen konnte, dann auch, weil die geschichtliche Bürde des Holocaust das deutsche Schiff vor jenen „harten Schwankungen“ bewahrte, die der Stresemann’schen Außenpolitik wie der Weimarer Republik zum Verhängnis wurden. Zugleich wäre ohne die Akzeptanz dieser Bürde durch die westdeutsche politische Klasse die Akzeptanz der Bundesrepublik in Europa ausgeblieben. Vom früheren Außenminister Joschka Fischer stammt der Satz: Auschwitz war das konstituierende Element der deutschen Nachkriegsdemokratie. Es war zugleich eine Gründungsbedingung der europäischen Integration. Der Sockel, auf dem deutsche Europa-Politik aufbauen konnte, war diesmal unumstößlich.

Die Notwendigkeit zu historischer Reflexion im deutschen außenpolitischen Geschäft ist mit der Akzeptanz des Holocaust nicht erschöpft. Die geschichtlichen Assoziationen, die die Völker Europas mit Deutschland verbinden, sind älter und jünger als die Nazizeit. Sie gründen auf der schlichten Tatsache, dass die Bundesrepublik auf der Gewichtsskala europäischer Macht mehr Pfunde auf die Waage bringt als andere. Wie immer im Verhältnis zwischen Großen und Kleinen haben die Letzteren meist das Gefühl, nicht hinreichend beachtet zu werden, die Ersteren die Neigung, ihre Übereinstimmung mit anderen Großen für ausreichend zu halten.

Auch die Außenpolitik der Bundesrepublik hat der Versuchung, ohne viel Rücksicht auf Kleinere Außenpolitik zu betreiben, nicht immer widerstanden, zumal nicht in der Regierungszeit Gerhard Schröders. Sein Vorgänger Helmut Kohl war sich stets bewusst gewesen, dass der Gewichtszuwachs Deutschlands durch die Wiedervereinigung besondere Rücksichtnahme auf die Partner in der EU verlangt, zumal auf die geschichtlichen Empfindlichkeiten der Kleineren. Sogar von der Sorge, die eigene massige Gestalt könne dort als Symbol deutscher Überheblichkeit empfunden werden, war er, wie er einmal gestand, nicht frei. Über den „Historiker Kohl“ hat sich mancher Intellektuelle lustig gemacht. Aber er hatte sich in die Geschichte unserer vielen Nachbarn und die Vielschichtigkeit ihrer Erfahrung mit Deutschland eingedacht und eingefühlt. Auch deshalb antwortete er auf die Wiedervereinigung nicht mit mehr Emanzipation, sondern mit mehr Integration. Und wurde zu einem, wenn nicht dem bedeutendsten Außenpolitiker unter den auch sonst in dieser Hinsicht meist beachtlichen Kanzlern der Bundesrepublik.

Der Kanzler, der nach Kohl kam, hatte weder dessen Geschichte noch dessen Geschichtsbewusstsein. Schröder war gewiss kein Revisionist, er war kein Gegner der europäischen Integration oder der Atlantischen Allianz. Aber er wollte demonstrieren, dass das von den Klammern des Kalten Krieges befreite und vereinte Deutschland nun gleichberechtigt war mit den anderen „Großen“ in der EU, „auf Augenhöhe“ mit Frankreich und Großbritannien. Die deutsche Außenpolitik, verkündete er, werde in Berlin gemacht – als ob irgendjemand dies bezweifelt hätte. Und als er für Deutschland einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat forderte, war dies nicht das Ergebnis vorhergehender Absprachen im EU-Rahmen, sondern für den Kanzler ein berechtigter Anspruch.

Es war diese Attitüde, die die außenpolitische Leistung Schröders – seine Irak-Entscheidung war richtig, der Einsatz deutscher Soldaten gemeinsam mit Verbündeten jenseits Europas wurde unter Fischer und Schröder endlich aus dem ideologischen Frontenkrieg erlöst – schmälert. Partner, die es zu gewinnen und mitzunehmen galt, stellten sich auf die Hinterbeine. Das deutsch-französische Tandem, das so lange von anderen in der EU als notwendiger Motor der Integration geschätzt und gar gefordert wurde, erschien nun vielen als Versuch deutsch-französischer Dominanz. Der Anspruch auf mehr Gewicht und Einfluss als „normale“ europäische Großmacht führte am Ende zu einem Verlust an Einfluss.

Die Schröder-Zeit wurde somit zu einem Lehrstück von der Unerlässlichkeit historischen Bewusstseins und Takts im außenpolitischen Geschäft und von dem Preis, den zu entrichten hat, wer es daran mangeln lässt. Wie der Größere dem Kleineren begegnet, prägt die Einstellung des Letzteren – und entscheidet am Ende darüber, ob der Erstere sich mit seinen Vorstellungen durchsetzen kann. Ein schönes afrikanisches Sprichwort weiß: „Wenn du schnell gehen willst, geh allein; wenn du weit kommen willst, geh mit anderen.“

Dies gilt es für die deutsche Außenpolitik erst recht zu beherzigen, wenn die Europäische Union zu einem wirksamen Akteur in der Welt werden soll. Europäische Außenpolitik kann nur gelingen, wenn alle EU-Partner zustimmen. Die Fähigkeit einzelner Mitglieder, europäische Außenpolitik zu gestalten, wird maßgeblich davon abhängen, wie weit sie Sensibilität für die Geschichte, das Selbstbild und die Interessen der Partner aufbringen. Darin liegt für die künftige deutsche Außenpolitik der Bewährungstest.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die Durchsetzung deutscher internationaler Interessen heute nur im Rahmen europäischer Außenpolitik möglich. Zwar tun die einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem die größeren unter ihnen, gerne so, als gäbe es eine autonome nationale Außenpolitik. Nur was ist davon wirklich übrig geblieben? In wichtigen außenpolitischen Bereichen – der Handelspolitik, der Umweltpolitik, der Entwicklungspolitik, der Erweiterungspolitik – haben die Staaten Kompetenzen an die Gremien der EU übertragen. Was ihnen, noch, bleibt, ist vor allem die Sicherheits- und Verteidigungspolitik; im Übrigen aber erhalten sie außenpolitischen Einfluss durch die Mitsprache am gemeinsamen Handeln der Union. Die Splittung zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Zuständigkeiten hat zur Folge, dass jeder für sich über weniger internationale Durchsetzungskraft verfügt. Die Antwort auf diesen unbefriedigenden Zustand kann nur eine enge Verknüpfung aller nationalen Außenpolitiken zu einer umfassenden europäischen Außenpolitik sein.

Eine Stärkung der Brüsseler Institutionen in Rat und Kommission, wie im geplanten Verfassungsvertrag vorgesehen, kann dabei nützen, vor allem die Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen. Aber keine noch so eindrucksvolle Autorität auf europäischer Ebene wird verbindlich Außenpolitik machen können, solange die Staaten selbst sie nicht vorher mitdefiniert haben und nachher mittragen. Das aber setzt voraus, dass wichtige Mitgliedstaaten durch eingehende Beratung mit ihren Partnern den Boden für gemeinsame Vorhaben bereiten, also die Führung übernehmen.

Aufgrund des eigenen Gewichts und der gegenwärtigen Schwäche anderer Partner fällt diese Verantwortung Deutschland zu, nicht nur jetzt, während der EU-Präsidentschaft. Um Koalitionen für gemeinsames internationales Handeln zusammenzufügen, muss die deutsche Diplomatie sich dadurch auszeichnen, dass sie europäisch konzipiert ist, die Interessen und Geschichtsbezüge der Partner mitdenkt und in ihre Initiativen integriert.

Die gegenwärtige Ratspräsidentschaft, die ja nichts anderes bedeutet als Führen durch Moderieren, ist dafür eine gute Übung. Denn Deutschlands Aufgabe ist mit der EU-Präsidentschaft nicht vorüber. Was jetzt in diesem Rahmen eingeübt wird, darf danach nicht wieder verlernt werden.

Die Versuchung dazu wird angesichts der unvermeidlichen Frustrationen bei dem Bemühen, die 27 Regierungen der EU immer wieder unter einen Hut zu bringen, erheblich sein. Eine sich selbst überlassene außenpolitische Bürokratie würde ihr erliegen. Deshalb müssen Kanzlerin und Außenminister nicht nur über das Ziel wachen, deutsche durch europäische Außenpolitik zu betreiben, sondern ebenso über den Geist und den Stil, in dem es im täglichen Tun umgesetzt wird. Dass sie dies versteht, hat Angela Merkel mit mancher klugen Geste draußen deutlich gemacht, Frank-Walter Steinmeier denkt nicht anders. Beide werden nach dem 30. Juni 2007, wenn der EU-Vorsitz auf Portugal übergeht, dafür sorgen müssen, dass ihr Ansatz auch drinnen weiter ernst genommen wird.

Christoph Bertram

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