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Meinung: Wenn Säuglinge vergessen zu atmen

US-Forscher finden eine Erklärung für den plötzlichen Kindstod

Alexander S. Kekulé Schlafen ist für rund 500 deutsche Babys im Jahr tödlich – sie wachen vom nächtlichen Schlummer oder dem Nickerchen zwischendurch nicht mehr auf, obwohl sie vorher vollkommen gesund waren. Eines von 2000 Kindern stirbt am „plötzlichen Kindstod“ (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS), der damit die häufigste Todesursache im ersten Lebensjahr ist.

Die medizinischen Ursachen des mysteriösen Babysterbens lagen bis jetzt im Dunkeln. Auch die Statistik ergibt kein klares Bild: SIDS tritt fast ausschließlich im ersten Lebensjahr auf, am häufigsten zwischen dem zweiten und fünften Monat. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. An SIDS verstorbene Kinder schliefen etwa zehnmal häufiger als der Durchschnitt in Bauchlage oder hatten die Decke über den Kopf gezogen. Auch Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft und Einatmen von Zigarettenqualm in den ersten Lebensmonaten erhöhen das Risiko. Andere Risikofaktoren waren bisher weniger einleuchtend – so bringen besonders besorgte Eltern, die ihr Baby bei sich im Bett schlafen lassen, ausgerechnet dadurch ihr Kind in Gefahr. Auch zu enge Wiegen gelten als Risiko. Am sichersten scheint demnach Schlafen auf dem Rücken im eigenen Bettchen in kühler Frischluft zu sein, und zwar im Schlafsack, damit sich der Sprössling nicht so leicht auf den Bauch drehen kann.

Doch auch die Beachtung aller Vorsichtsregeln bedeutet keine Sicherheit vor SIDS. Die unheimliche Gefahr verursacht vielen Eltern schlaflose Nächte. Manche verfallen in regelrechte Panik und rüsten Kinderzimmer zu kleinen Intensivstationen auf mit Videokameras, Funkalarmen für die Atmung oder Kreislaufmonitoren aus dem Krankenhaus.

Eine vergangenen Mittwoch veröffentlichte Studie bringt nun erstmals Licht in die biologischen Vorgänge, die zum nächtlichen Babysterben führen. Eine US-Forschergruppe fand heraus, dass der Hirnstamm von an SIDS verstorbenen Säuglingen weniger gut auf den Botenstoff Serotonin reagierte als bei normalen Kindern. Diese Hirnregion am Übergang zum Rückenmark regelt die Atmung und das Hochfahren der Nervenaktivität aus dem Schlaf: Bekommt der Körper zu wenig Sauerstoff, etwa weil die Atmung im Tiefschlaf zu langsam wird oder eine Decke auf das Gesicht drückt, schütten spezialisierte Nervenzellen Serotonin aus. Die dadurch ausgelöste Erregung wirkt auf das Großhirn wie eine kalte Dusche – das Kind wacht ein wenig auf, bewegt sich, bis die Atemwege frei sind, atmet ein paarmal tief durch und versinkt wieder im Schlummer.

Die neue Studie beweist, was SIDS-Experten schon länger vermuteten: Aufgrund einer genetischen Veranlagung sind einige Kinder besonders gefährdet. Bei diesen reagieren die Nervenzellen nicht empfindlich genug auf die Serotonindusche aus dem Hirnstamm. Besonders wenn es warm und gemütlich ist wie bei den Eltern im Bett, hört der Säugling im Tiefschlaf einfach auf zu atmen und reagiert nicht, wenn die Sauerstoffversorgung gestört wird. Diese Babys „vergessen“ sozusagen im Schlaf, dass sie nicht mehr im Mutterleib sind. Dort war es ebenfalls warm, eng und geborgen –  und das Atmen besorgte die Mama für sie.

Damit sind auch die statistisch gefundenen Risikofaktoren endlich verständlich. Zur genetischen Veranlagung passen die länger bekannten Häufungen von SIDS in bestimmten Familien und bei Menschen mit afrikanischer Abstammung. Auch das geringere SIDS-Risiko für Mädchen ist geklärt: Der weibliche Hirnstamm reagiert nämlich empfindlicher auf Serotonin als der männliche. Da Schwangere für den Fötus mitatmen und Stillende leicht weckbar sein müssen, macht dieser kleine Unterschied durchaus Sinn.

Die Studie war übrigens nur möglich, weil in Kalifornien bereits seit 1989 alle SIDS-Toten ohne Einverständnis der Eltern für die Forschung verwendet werden können. Da sonst nur wenige Eltern ihre verstorbenen Kinder dafür freigeben, wird es wohl noch lange dauern, bis ein Test für die Disposition zum plötzlichen Kindstod zur Verfügung steht. Bis dahin mag es Eltern beruhigen, dass die Beachtung der Risikofaktoren das SIDS-Risiko immerhin um die Hälfte reduziert. Die andere Hälfte bleibt vorerst Schicksal.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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