zum Hauptinhalt

Meinung: Wer darf kranke Lehrer vertreten?

„Krankes System“ vom 15. Mai Sehr geehrter Herr Martenstein, Sie schreiben, dass keinem Menschen begreiflich zu machen sei, dass überhaupt Unterricht ausfalle.

„Krankes System“ vom 15. Mai

Sehr geehrter Herr Martenstein,

Sie schreiben, dass keinem Menschen begreiflich zu machen sei, dass überhaupt Unterricht ausfalle. Dazu gebe ich zu bedenken: Wenn in einer anderen Berufsgruppe jemand krank wird, bleibt dessen Arbeit liegen oder muss von anderen Kollegen zusätzlich nach der eigenen Arbeit erledigt werden. Wenn ein Lehrer krank wird, kann ein anderer den Unterricht aber nicht nach dem eigenen erledigen, sondern er hätte gleichzeitig zur eigenen Klasse mit vielleicht 25 Schülern eine vielleicht ebenso große Anzahl Schüler in einem anderen Raum und vielleicht einem anderen Fach auf dem Stundenplan zu unterrichten.

Die Lösung könnte nur darin bestehen, dass Lehrkräfte zusätzlich sozusagen Bereitschaftsdienst im Lehrerzimmer tun, um einzuspringen, wenn ein Kollege krank wird. Dies ist eine Frage der Finanzierung. Jede Schulleitung wäre dankbar um eine solche Ausstattung.

Besonders geärgert hat mich Ihr Vorschlag, „Eltern, die Lust darauf haben“, schnell und unbürokratisch einzusetzen. Warum brauchen wir dann überhaupt noch ein Lehramtsstudium? Dann stellen wir doch Arbeitslose vor die Klasse, oder?

Dies ist eine Beleidigung für jeden engagierten Lehrer, der sich durch Wahl der Unterrichtsmethoden, der Medien, der Materialien, des Themas und nicht zuletzt der Wortwahl auf das geistige und emotionale Entwicklungsstadium der Schüler hin gewissenhaft vorbereitet. Er kennt sich nicht nur in einem Fach aus, sondern weiß auch, wie man etwas pädagogisch vermittelt. Und das können Eltern so aus der Hand, wenn man sie morgens anruft? Ich kann nicht glauben, dass Sie das wirklich so sehen!

Wenn doch, lade ich Sie herzlich ein, mich in einer Schule zu besuchen (ich arbeite an zweien) und sich ein Bild von der beruflichen Qualifikation von uns Lehrern zu machen.

Barbara Welina, Berlin-Staaken

Sehr geehrte Frau Welina,

auffällig oft beginnen die Texte in dieser Rubrik mit der Formulierung „Sie haben recht“. Auch ich fange so an: Frau Welina, Sie haben recht. Ein Lehrer kann nicht einfach durch einen Laien ersetzt werden, genauso wenig wie ein Koch oder ein Ingenieur. Wissen Sie was? Nicht mal Journalisten können einfach durch einen dahergelaufenen Jemand ersetzt werden. Wenn diese Zeitung nicht von Journalisten gemacht würde, sondern von Köchen oder von Lehrern, dann, das verspreche ich Ihnen, würden Sie den Unterschied sofort bemerken. Trotzdem schlage ich vor, in Berlin keine Schulstunden mehr ausfallen zu lassen, und ich bin ziemlich sicher, dass dieses Projekt relativ einfach umzusetzen wäre, wenn man nur wollte. Ich glaube nämlich, dass eine unperfekt und improvisiert gehaltene Schulstunde immer noch deutlich besser ist als eine Schulstunde, die überhaupt nicht stattfindet. Wollen Sie mir da wirklich widersprechen?

Alle sagen: „Bildung ist wichtig. Für unsere Zukunft ist Bildung das Wichtigste überhaupt.“ Und, was folgt daraus? Eigentlich immer nur die Forderung nach mehr Geld vom Staat. Niemals die Forderung nach mehr Phantasie im Bildungssystem, nach mehr Flexibilität der Lehrenden, nach der Bereitschaft, eigene Besitzstände in Frage zu stellen. Was haben unsere Kinder davon, wenn wir ihnen ein perfektes Bildungssystem bauen, und der Staat geht dabei pleite, wie Griechenland? Wir müssen lernen, das vorhandene Geld klüger auszugeben.

Tausende, da bin ich sicher, wären bereit, sich für wenig Geld oder gar kein Geld vor eine Klasse zu stellen und ihr Bestes zu geben, Akademiker, pensionierte Pädagogen, Handwerksmeister. In der Grundschule lässt sich das natürlich leichter umsetzen als im Englischunterricht der 12. Klasse. Diese Aushilfen werden nicht das leisten können, was der Lehrer leistet, gewiss. Sie werden aber sehr engagiert und motiviert sein. Vielleicht erzählen sie über ihren Beruf. Vielleicht lesen sie etwas vor. Vielleicht singen sie oder diskutieren. Vielleicht halten sie sich sogar an den Lehrplan, in dem Fach, das ich studiert habe, würde ich es versuchen. Und wenn tatsächlich ein Arbeitsloser in der Schule etwas über das Leben in der Arbeitslosigkeit erzählt – wäre das wirklich schlecht? So oder so, es werden keine verlorenen Stunden sein. Sind Ihnen verlorene Stunden lieber?

Aus Ihrem Brief, verzeihen Sie, spricht verletzter Stolz. Sie glauben, ich würde Ihre berufliche Qualifikation gering schätzen. Das ist nicht der Fall. Aber wir müssen, daran glaube ich wirklich, an die Bildungskrise pragmatisch herangehen und nicht bürokratisch. Pathetisch gesagt: Die Kinder sind wichtiger als unser Stolz. Im Moment sind an vielen Schulen die Stundenpläne nur Theorie, eine unverbindliche Absichtserklärung. Wenn jede Schulstunde tatsächlich stattfindet, zeigen wir den Kindern, dass wir, ihre Vorbilder, die Schule wirklich ernst nehmen. Dann wäre der Satz „Bildung ist wichtig“ endlich mehr als eine Phrase.

— Harald Martenstein, Autor des Tagesspiegels

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false