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Meinung: Wer will schon Tofu-TV?

2004 sah jeder Deutsche im Durchschnitt 210 Minuten pro Tag fern: Ein neuer Rekord

Das Fernsehen ist zum Ärgern da. Das Weihnachtsprogramm 2004 war eine Wiederholung des Weihnachtsprogramm 2003. Und am Samstag hat die länger und länger gezogene Live-Übertragung der „Krone der Volksmusik“ im Ersten die „Tagesthemen“ tief in die Nacht geschoben. Die ARD hat an diesem Abend „De Randfichten“ wichtiger genommen als die Flutkatastrophe in Asien, der CDU-Politiker Norbert Blüm war sich nicht zu blöde, die Laudatio auf die „Holzmichel“-Combo zu halten.

Das Fernsehen ist zum Einschalten da. Jeden Tag im Jahr 2004 hat der Durchschnittsdeutsche 210 Minuten vor dem Fernseher gesessen. Das ist neuer deutscher TV-Rekord, der fünfte in Folge übrigens. Das sind dreieinhalb Stunden täglich. Womit verbringt der Bundesbürger mehr Zeit am Tag? Mit Arbeit, wenn er denn eine hat, mit Schlafen, wenn er schlafen kann, dann kommt schon das Fernsehen. Das Medium ist eine Alltagsroutine, viele verbringen ihr Leben mit dem Fernsehen und manche bringen ihr Leben mit dem Fernsehen über den Tag, die Woche, das Jahr. Das Fernsehen als Lebensmittelpunkt ist ein Lebensmittel. Wer gegen dessen Konsum argumentiert, argumentiert wie ein Vegetarier gegen das Fleisch. Eine ehrenwerte Position, und doch für die überwältigende Mehrheit keine Alternative. Im Gegenteil, der Verlust von Wurst wäre ein nicht hinzunehmender Verlust an Lebensqualität.

Zum Fernsehen gibt es keine Alternative. Das Fernsehen als Fernsehen ist durch nichts zu ersetzen, für die Heavy-User des Mediums schon gar nicht. Es struktutiert den Tag, es bringt Sinn ins Leben, das Fernsehen lenkt ab, unterhält, es lässt miterleben, wo eigenes Erleben aus Mangel an Phantasie, Geld und Initiative für nicht mehr möglich gehalten, nicht mehr praktiziert wird. Zahlreiche Programme, die das Medium bietet, sind zudem einzigartig. Die unvergleichliche Mischung aus Emotion und Information hat – siehe Flutkatastrophe – das Fernsehen zum Spendenkatalysator werden lassen. Ohne Fernsehen ist wenig bis gar nichts.

Die klügeren Kritiker des Fernsehens haben das begriffen. Elke Heidenreich sagt im neuen „Spiegel“, Fernsehen mache müde, „diese Flut von Bildern im Kopf ist schlimm, weil sie die eigenen Gedanken verwirrt“. Stimmt. Das Fernsehen hält nicht an, es ist eine einzige Kaskade an Bildern und Tönen. Dagegen wehrlos ist keiner. Heidenreich überlistet das Medium, indem sie in ihrem Literaturmagazin „Lesen!“ die Bildermaschine stoppt und fünf Minuten über ein Buch spricht. Da findet eigentlich kein Fernsehen statt, und trotzdem schauen Hunderttausende zu, gehorchen dieser Literatur-Domina und kaufen die empfohlenen Bücher. Dem Fernsehen sei Lob, Preis und Dank.

„Lesen!“ läuft sechs Mal im Jahr eine halbe Stunde. Das sind lächerliche drei Fernsehstunden. Das schafft der Durchschnittsdeutsche ganz locker an einem einzigen Tag. Beiben 364 Tage übrig. Mit oder ohne Fernsehen? Wer sich übers Fernsehen ärgert, der muss sich auch über sich selbst ärgern. Nicht wenige aus den gebildeten Ständen unterschreiten beim Fernsehen ihr gerne postuliertes Niveau für alle Lebenslagen. Vor der Glotze abzuhängen, das ist schandbar, aber menschlich. Vor dem Fernseher verwandeln wir uns in Fernsehzuschauer und räumen dem Medium eine Bedeutung in unserem Leben ein, die wir sonst kleinreden.

Der neue deutsche Fernsehrekord 2004 war kein Irrtum, kein Zufall, kein Rechenfehler. Wir wollten fernsehen und wir haben ferngesehen. Und 2005? Weniger Fernsehen wäre schon toll. Lesen, nachdenken, bilden, dem Nachbarn helfen. – Aber läuft heute nicht „Julie – Agentin des Königs“?

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