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Meinung: Wie Europa stimmt

Von Christoph von Marschall

Die Türkei stürzt die Bürger in Verwirrung. Und in Gewissensnöte. Oft sind es dieselben, die Unterschriftenlisten der Union ablehnen, aber gleichzeitig Volksabstimmungen zu Schicksalsfragen wie dem EUBeitritt der Türkei fordern. Die Unterschrift ist also schlecht, das Kreuz aber gut?

Die Unterschriftenlisten sind Populismus. Sie sollen mobilisieren, an Erkenntnis bringen sie nichts. Meinungsumfragen belegen, dass klare Mehrheiten der Deutschen, aber auch der SPD-Anhänger gegen die Aufnahme sind. Der Union ist vorzuwerfen, dass sie Stimmungen schürt – in der Hoffnung auf politischen Gewinn, wie damals in Hessen beim Doppelpass. Aber sie kann das nur, weil umgekehrt der Kanzler so wenig tut, um die große skeptische Mehrheit zu überzeugen. Wenn er behauptet, die Verhandlungen seien nicht ergebnisoffen, sondern könnten nur mit der Aufnahme der Türkei enden, stärkt er die Bedenken. Wie soll da ein Referendum jemals eine gute, eine demokratische Idee sein?

Bisher galt: Bloß keine Volksabstimmungen über so emotionale, ressentimentbeladene Themen. Und in Europa hieß es: Keine Volksabstimmung über eine andere Nation. Also: Ein Volk, das beitreten will, das darf abstimmen – aber kein naserümpfendes „Die-wollen-wir-aber-nicht-dabei-haben“ derer, die bereits drin sind. Das irische Referendum über den Nizzavertrag, ohne den die Osterweiterung nicht möglich gewesen wäre, hat belegt, dass solche Volksabstimmungen auch keineswegs demokratisch sind. Bei einer Beteiligung von 33 Prozent entschied eine halbe Million Iren, ob hundert Millionen Osteuropäer rein dürfen. Und demnächst sollen es zum Beispiel 760 000 griechische Zyprioten – und 24 weitere Nationen, jede für sich – in der Hand haben, ob 70 Millionen Türken EU-Bürger werden?

Keine Vetorechte für einzelne Völker in EU-Fragen! Wenn, muss das ganze Europa abstimmen – und gesamteuropäisch gezählt werden: Gültig sind nur Referenden, hinter denen bei mindestens 50 Prozent Wahlbeteiligung eine Mehrheit der Länder und eine Mehrheit der EU-Gesamtbevölkerung steht. Die Minderheit muss sich dem beugen – oder austreten. Sonst wird aus dem Diktat der Regierungen ein unregierbar populistisches Europa.

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