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Das Weiße Haus nennt die Wikileaks-Veröffentlichungen "rücksichtslos".

© dpa

Wikileaks’ Depeschen: Anschlag auf die Diplomatie

Wie würde das eigene Leben aussehen, wenn alle wüssten, wie der Chef, die übrigen Menschen im Betrieb oder auch die Nachbarn einen einschätzen? Viele würden wohl kündigen und anderswo einen Job suchen, zum unbelasteten Neuanfang. Den erlaubt die Weltpolitik nicht.

Als öffentlich bekannt wurde, dass Justizministerin Herta Däubler-Gmelin den amerikanischen Präsidenten George W. Bush mit Hitler verglichen hatte, musste sie ihr Amt aufgeben. Damals, 2002, war nicht wirklich überraschend, dass sie Bush nicht mochte und die mediale Vorbereitung des Irakkriegs für Kriegspropaganda hielt. Entscheidend war, dass nun jeder ihre Einschätzung nachlesen konnte. Das deutsch-amerikanische Verhältnis wurde eisig.

Die Veröffentlichung vertraulicher US- Diplomatenberichte ist von der Dimension des Geschehens her Däubler-Gmelin tausendfach multipliziert und erweitert vom Bilateralen auf fast die gesamte Weltpolitik. So gesehen klingt die Einschätzung des italienischen Außenministers Franco Frattini, dies sei ein 9/11 der internationalen Diplomatie, gar nicht so abwegig. Der Terrorangriff auf New York war eine Zäsur, er veränderte den Alltag der Bürger und den Umgang der Staaten miteinander. Ebenso wird die Attacke auf die Vertraulichkeit interner Einschätzungen die Diplomatie erschüttern.

Jeder Mensch kann den Vergleich anstellen: Wie würde das eigene Leben aussehen, wenn Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen nachlesen könnten, was man in guten und schlechten Momenten über sie gedacht, aber nicht gesagt hat? Wie stände man da, wenn alle zusätzlich wüssten, wie der Chef, die übrigen Menschen im Betrieb oder auch die Nachbarn einen einschätzen? Und wenn zudem herauskäme, dass sie Dinge über einen wissen, die man lieber für sich behalten hätte? Es würde das Klima vergiften. Wie geht man dann miteinander um? Viele würden wohl kündigen und anderswo einen Job suchen, zum unbelasteten Neuanfang.

Den erlaubt die Weltpolitik nicht. Sie muss mit der Klimavergiftung zurechtkommen. Es wird zwar gewiss keine Welle von Jobverlusten à la Däubler-Gmelin geben, nur weil jeder nachlesen kann, was amtierende Spitzenpolitiker in Wahrheit übereinander denken. Auch Kriege werden nicht unmittelbar folgen wie nach dem realen 9/11 – oder wie 1870 nach Veröffentlichung der „Emser Depesche“ zwischen Frankreich und Deutschland. Aber in Weltregionen, in denen die persönliche Ehre und die nationale Ehre bis heute mit Blut verteidigt werden, sind Attentatspläne denkbar. Wird, zum Beispiel, Libanons Premier Saad Hariri seine nun öffentlich gewordenen harten Äußerungen über Iran und Syrien lange überleben? Sein Vater war 2005 Opfer eines syrischen Mordkomplotts.

Solche Konsequenzen wiegen schwer im Vergleich zur Transparenz, mit der Wikileaks und die kooperierenden Medien die Veröffentlichung rechtfertigen. Gewiss, die Dokumente entlarven Regierungslügen – doch weniger in den USA und generell im Westen, wo freie Medien zur Kontrolle beitragen und viele diese „Enthüllungen“ im Ansatz bereits berichtet hatten. Bedrohlich sind die Inhalte für diktatorische Regime: zum Beispiel das Ausmaß der Korruption afghanischer Eliten samt Namen und Summen; die verächtlichen Urteile arabischer Führer übereinander und der Beleg, dass sie die USA – mehr noch, als Israel es tut – zum Angriff auf Iran drängen, während sie offiziell islamische Solidarität predigen und so tun, als seien Amerika und Israel Kriegstreiber. In ihren Staaten gibt es freilich kaum Medien, die kritische Fragen stellen. Nur das Internet schafft etwas Öffentlichkeit.

Fürs Erste steht die Welt kopf: Amerika ist beschämt, Israel jubelt ausnahmsweise. Das Doppelspiel vieler Diktaturen ist nachweisbar. Es wird dauern, bis sich eine neue Stabilität einstellt.

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