zum Hauptinhalt

Meinung: „Wir brauchen diesen Deutschen nicht“ Scham, Wut – und eine peinliche Verwechslung:

Erinnerungen an meinen ersten Besuch als Bundespräsident in Polen

Die wichtigste außenpolitische Aktivität der ersten Wochen meiner Amtszeit spielte sich am 1. August 1994 in Warschau ab. Dort begingen das polnische Volk und seine Regierung den fünfzigsten Jahrestag des Warschauer Aufstands von 1944, und Präsident Lech Walesa hatte mich dazu, noch vor meinem Amtsantritt, in aller Form eingeladen. Es war bekannt, dass die Einladung in Polen höchst umstritten war; die ablehnenden Meinungen gingen von der Weigerung, überhaupt einen Deutschen bei einer solchen Feier dabeihaben zu wollen, bis zu der Ansicht, eine solche Teilnahme sei zwar generell wünschenswert, 1994 sei es dafür aber zu früh. Ich kannte diesen Meinungsstreit und hatte auch jedes Verständnis für diejenigen, die die Einladung nicht guthießen. Nachdem sie nun aber einmal vorlag, hätte ich es als Feigheit empfunden, sie auszuschlagen, und außerdem als das Vertun einer großen Chance, einen weiteren Schritt zur Aussöhnung mit den Polen zu tun. Es hätte mir in innerster Seele widerstrebt, die Einladung abzulehnen.

Das Unglück wollte es, dass in einem Interview, das ich zu dieser Frage gab, nicht vom Warschauer Aufstand die Rede war, also nicht von der militärischen Erhebung einer polnischen Untergrundarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht am 1. August 1944, sondern vom Warschauer Ghetto-Aufstand vom April 1943, von der Auflehnung der dort noch verbliebenen Juden gegen den Abtransport in die Vernichtungslager der SS. Dies werteten die polnischen Kritiker als Beweis dafür, dass es in Deutschland immer noch an den nötigen Kenntnissen wie auch am Verständnis für die polnische Geschichte fehle. Wie es zu diesem Irrtum kam, kann ich nicht mehr sagen. Die Formulierung war in dem geschriebenen Interviewtext, der mir zur Autorisierung vorgelegt wurde, schon enthalten. Ich habe sie auch gesehen und als falsch erkannt. Da ich die Fahnen während eines Besuchs des Bundesverfassungsgerichts beim hamburgischen Verfassungsgericht durchsah (wahrscheinlich während einer der dabei üblichen fachlichen Diskussionen), habe ich die Sache aber wieder aus den Augen verloren und den Text sozusagen blind abgezeichnet. Der betreffende Journalist hat den Fehler vernünftigerweise nicht auf mich geschoben, ich habe ihn aber auch nicht dafür verantwortlich gemacht, sondern mich ganz auf die Rede konzentriert, die ich in Warschau zu halten hatte, und so hat sich die Aufregung bald wieder gelegt. (...)

Der 1. August 1994 war der heißeste und schwülste Tag des ganzen Jahres, und Warschau war, wenn man den Presseberichten trauen darf, an diesem Tag der Hitzepol Europas. Für mich begann der Tag mit der Niederlegung eines Blumengebindes an einem Gedenkstein für die Opfer des Aufstands auf einem Friedhof, bei dessen Verlassen ich auf die russischen Delegation traf, die ebenfalls Blumen niederlegen wollte. Die Delegation wurde vom Chef des russischen Präsidialamtes angeführt; Boris Jelzin hatte es vorgezogen, nicht an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Ich wusste es bereits, aber erst in diesem Augenblick begriff ich den Grund seines Fernbleibens: Die Russen hatten an diesem Tag noch wesentlich schlechtere Karten als die Deutschen. Natürlich wird kein Pole die Härte der Kämpfe, den Opfermut der Aufständischen und die Brutalität jemals vergessen, mit der die Deutschen den Aufstand niederschlugen und Warschau buchstäblich auslöschten. Ebenso wenig wird er aber je vergessen, dass die Rote Armee am 1. August 1944 schon kurz vor Warschau stand, sich dann aber am Weichselufer eingrub und in aller Ruhe zusah, wie Aufstand und Stadt total vernichtet wurden. Die Rede, die der Leiter der russischen Delegation aus Moskau mitgebracht hatte, trug dem nicht im Geringsten Rechnung. Sie war so formuliert, wie man die Gräuel des Nationalsozialismus in Deutschland vielleicht während der fünfziger Jahre behandelt hätte. Dem entsprach dann auch das Echo, das sie bei den Polen hervorrief.

Im Laufe des Tages machte ich immer wieder eine bewegende, fast irritierende Beobachtung. Zwanzigmal reicht nicht, dass ich von polnischen Gesprächspartnern auf die Geschicke ihrer Familien während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit angesprochen wurde, und fast immer hieß es: „Fast meine ganze Familie ist damals ausgerottet worden.“ Diese Aussage überraschte mich nicht. Überraschend war jedoch der Nachsatz, der immer sofort angefügt wurde, und der lautete ungefähr so: „Ein Drittel durch die Deutschen, zwei Drittel durch die Russen.“ Die Prozentsätze wechselten natürlich von Fall zu Fall, aber die Quintessenz war immer die gleiche. Ich weiß bis heute nicht, ob das alles der Wahrheit entsprach oder ob damit nicht nur ausgedrückt werden sollte, dass meinen Gesprächspartnern an einem solchen Tag der deutsche Gast immer noch lieber war als der russische. Jedenfalls hat es mir an diesem heiklen Tag geholfen.

Übrigens stellte ich am späteren Vormittag bei einem Gang durch die Warschauer Altstadt fest, dass die Stimmung der Bevölkerung ganz ähnlich war. Man beobachtete mich mit einer gewissen Neugier, aber zugleich mit einer durchaus verständlichen Skepsis. Unfreundlichkeiten habe ich nirgends erlebt, das Gastrecht wurde mir gegenüber wie etwas Selbstverständliches geachtet. Damals hatte ich durchaus meine Zweifel, ob man in Deutschland auch zu einer solchen Haltung fähig gewesen wäre. Wenige Monate später erlebte ich dann aber in Dresden eine ähnliche Haltung der dortigen Bevölkerung gegenüber den Stabschefs der drei Westalliierten. Ich war also wohl zu skeptisch gewesen. (...)

Lech Walesa hatte schon bei meiner Begrüßung eine aufgelockerte Gastlichkeit gezeigt. Nachdem ich die reichlich mit Messing herausgeputzte Ehrengarde abgeschritten hatte, begrüßte er mich auf den Stufen vor dem Schlossportal höchst ungezwungen. Fast sofort kam er auf das Wetter zu sprechen: „Ich habe noch nie einen so heißen Sommer erlebt wie in diesem Jahr.“ Da konnte ich mit einem Widerspruch dienen: „Doch, ich schon – 1946.“ Er stutzte einen Augenblick und erwiderte dann beinahe wörtlich: „Das war vor meiner Zeit, das interessiert mich nicht.“ Ich nahm das als gutes Vorzeichen; schließlich hatte sich dann auch der Warschauer Aufstand „vor seiner Zeit“ ereignet. Was immer er mit seiner Äußerung gemeint hat, die ganze Zeit, in der wir miteinander zu tun hatten, haben wir diese formlose, ja burschikose Ebene nie verlassen und sind beide damit nicht schlecht gefahren.

Nach dem Mittagessen ereignete sich etwas, was ich den Beteiligten bis heute nicht vergessen habe. Während einer Zigarettenpause kamen Al Gore und der britische Premierminister John Major auf mich zu. Sie sagten, ich hätte heute den bei weitem schwierigsten Part zu spielen, und sie wollten mich dabei unbedingt unterstützen. Sollte ich also nach meiner Rede noch irgendeine Klarstellung oder Ergänzung hinzufügen wollen, so sollte ich es ihnen sagen. Da sie nach mir sprächen, könnten sie es für mich einrichten. Das hat sich später gottlob nicht als notwendig erwiesen, und es hätte höchstwahrscheinlich auch gar keine Möglichkeit mehr gegeben, eine solche Bitte an sie heranzutragen. Es hat mir aber gutgetan, dass beide mir ihre Hilfe anboten. Wer einmal in einer so schwierigen Lage war wie ich damals, wird diese Dankbarkeit vielleicht verstehen.

Die entscheidende Stunde kam dann am Abend. Acht Staatsoberhäupter oder ihre Vertreter hatten am Denkmal der Helden des Aufstands ihre Kränze niedergelegt, ich mitten unter ihnen. Danach folgte eine Massenkundgebung auf dem benachbarten Krasínski-Platz, die allen, die sie miterlebt haben, unvergesslich bleiben wird. Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski hat die Stimmung eindrücklicher geschildert, als ich es je könnte:

Auf dem Krasínski-Platz hatten sich Unmassen von Menschen versammelt. Ich befand mich unter alten Männern, ehemaligen Soldaten des Aufstands. Die meisten von ihnen kamen auf diesen Platz voller Bitterkeit und Abneigung, und auf ihren Schultern lasteten Jahrzehnte schmerzhafter Vorurteile. Sie sprachen untereinander, dass es ein Fehler von Präsident Walesa gewesen sei, Herzog an diesem Tag einzuladen. „Wir brauchen diesen Deutschen heute nicht“, sagten sie, „das ist unsere heilige Stunde des Gedenkens, wir haben das Recht, sie ohne Fremde zu begehen, insbesondere aber ohne die Deutschen...“ Die Dämmerung brach herein. Der Himmel war dunkel, fast schwarz. Ein heißer Wind kam auf, er rauschte in den Kronen der mächtigen Bäume des Parks. Die grellen Lichter der Scheinwerfer zerschnitten die Dunkelheit über den Köpfen Tausender Menschen wie scharfe Messer. Irgendwo grollten Donnerschläge, über den Himmel huschten ferne, blasse Blitze. Jeden Augenblick kam das große Gewitter näher an die versammelte Menschenmenge heran. Es war fast eine theatralische Kulisse, als wollte die Natur selbst bei diesem großen, historischen Drama die Regie führen.

Herzog stieg auf die Tribüne, und Polen erstarrte in Schweigen. Er stand vor dem Hintergrund des Denkmals der Helden des Aufstands. Er sprach kurz. Er sagte, ewige Scham sei die Frucht der deutschen Verbrechen an Polen. Er sagte, die Zerstörung Polens hatte die Selbstzerstörung Deutschlands zur Folge. Im Namen des deutschen Volkes, das bereits in einem Staat vereint war, bat er die Polen um Vergebung. Die Menge lauschte in geradezu erschreckender Konzentration und Stille. Man hörte nur die Worte Herzogs, das immer lautere Rauschen des Windes in den Baumkronen, das immer nähere Donnern. Am Himmel zuckten Serien von Blitzen.

Als der Präsident seine Ansprache beendete, brausten Salven des Beifalls gen Himmel. Ich stand unter alten Menschen, unter Soldaten, KZ-Häftlingen, Invaliden, Kriegswitwen und Kriegswaisen. Diese Menschen haben geweint.

Später habe ich ein Video dieser Veranstaltung gesehen. Es zeigt, wie bei den zentralen Worten, die ich damals sprach, immer wieder Menschen in die Höhe sprangen, um stehend zu applaudieren. Szczypiorski hat nicht übertrieben.

Es gehört offenbar zu meinem Leben, dass auch in den ernstesten Stunden noch irgendetwas Komisches geschieht. So war es auch an diesem Tag. Das Gewitter, das während der gesamten Feierlichkeit immer wieder heraufgezogen und dann von entgegengesetzten Winden wieder abgedrängt worden war, ging von einer Sekunde auf die andere auf den Krasínski-Platz nieder. Die Ehrengäste verschwanden einer nach dem anderen, die Tribünen leerten sich, und plötzlich standen Lech Walesa und ich, natürlich immer noch von unserem Gefolge und Sicherheitsbeamten umgeben, ziemlich allein vor einer der Tribünen. Irgendjemand brachte einen überdimensionalen Regenschirm, unter dem wir beide bequem Platz hatten, und ohne große Absprache setzten wir uns in die unterste Bankreihe der Tribüne, um das Ende des Regens abzuwarten – den Schirm immer über uns. Der polnische und der deutsche Präsident einträchtig unter einem Regenschirm – es hätte ein Bild für die Weltpresse werden können. Nur waren weit und breit keine Fotografen mehr zu sehen, das polnische Protokoll hatte sie längst wegkomplimentiert, und sie waren wohl auch von sich aus gern gegangen; wahrscheinlich hätten weder sie noch ihre Apparate den Regen gut ertragen. Sie haben wohl auch nie erfahren, welche Chance ihnen an diesem Abend entgangen ist. Deshalb sollen sie es wenigstens hier erfahren.

In Deutschland gab es zu meinem Auftritt in Warschau so gut wie nur zustimmende Äußerungen. Am meisten berührte mich allerdings nicht das lobende Wort, sondern eine Karikatur von Ernst Maria Lang in der „Süddeutschen Zeitung“. Sie zeigte mich, wie ich mich unter der Last eines riesigen Hakenkreuzes vorwärtsbewegte. Das entsprach genau meinem Empfinden.

Die Scham, von der Theodor Heuss einst gesprochen hat und die auch ich in Warschau wieder erwähnte, empfinde ich bei bestimmten Anlässen noch heute. Mehr und mehr hat sich aber inzwischen eine ungeheure Wut meiner bemächtigt, Wut über die Leiden, die Millionen Menschen von diesen widerlichen NS-Gartenzwergen angetan wurden, Wut aber auch über die Schmutzflecken, die sie dem Ansehen unseres Volkes in der Welt zugefügt haben und die noch lange nicht herausgewaschen sein werden. Ich bin kein Mensch, der großer und verzehrender Leidenschaften fähig ist. Wenn versucht wird, die Taten dieser Verbrecher zu beschönigen oder gar zu rechtfertigen, oder wenn ihre dummen Sprüche wiederholt werden, werde aber selbst ich leidenschaftlich, und ich kann unseren Mitbürgern nur das Gleiche empfehlen.

Roman Herzog

Zur Startseite