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Meinung: Wir müssen die Nato reformieren – jetzt!

Die Allianz braucht eine neue politische Strategie

Von HansDietrich Genscher Der Nato-Gipfel in Istanbul hat gebracht, was er bringen konnte. Das ist gut und gleichzeitig zu wenig. Das versöhnlichere Klima entsprach weniger neuer Gemeinsamkeit, als vielmehr innenpolitischen Notwendigkeiten aller Beteiligten. Die Meinungsverschiedenheiten in der Irakfrage bleiben. Aber das ist keineswegs nur ein Einzelproblem, vielmehr ist es Folge des Fehlens einer politischen Gesamtstrategie der Nato. Aber die transatlantische Partnerschaft hat zentrale Bedeutung für die globale Stabilität. Das sicherheitspolitische Kernstück der transatlantischen Partnerschaft ist die Nato. Ihre militärischen Fähigkeiten haben in der Zeit sowjetischer Bedrohung Sicherheit und Stabilität garantiert. Der größte Erfolg der Nato, die friedliche Überwindung der Ost-West-Konfrontation, konnte erst mit der Formulierung einer gemeinsamen politischen Strategie erzielt werden. Der Harmel-Bericht der Nato von 1967 schuf Grundlage und Rahmen für die Entspannungs-KSZE-Politik, in der Deutschland auf der Grundlage der Ostverträge eine entscheidende Rolle übernahm.

Heute, angesichts neuer Herausforderungen, braucht die Nato eine neue politische Strategie. Wer das vernachlässigt oder die Nato zur Seite schiebt, berührt den Kernbestand des Bündnisses. Kein Bündnis der so genannten Willigen kann die Nato ersetzen. Deshalb muss die Nato wieder Ort der politischen und militärischen Entscheidungen werden. Die Europäer müssen erkennen, dass Europa sich aus seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Interessen definiert, und nicht als Gegenpol zu den USA. Und Washington muss erkennen, dass die USA bei aller Stärke ohne den Partner Europa weder globale Verantwortung erfüllen noch die eigenen Interessen ausreichend wahrnehmen können. Die gemeinsame politische Strategie muss den globalen ökonomischen, ökologischen, sozialen, bildungspolitischen und kulturellen Herausforderungen Rechnung tragen. Sie alle sind Elemente globaler Stabilität durch gleichberechtigte Zusammenarbeit. Im Ost-West-Verhältnis wurde der entscheidende Schritt mit Einbeziehung des westlichen Wertekanons in die Politik gegenüber dem Osten getan. Das gilt auch heute. Das oberste Gericht der USA hat soeben dazu einen wertvollen Beitrag geleistet. So wie keine staatliche Ordnung auf Dauer existieren kann, die als ungerecht empfunden wird, so gilt das auch für die entstehende neue Weltordnung.

Die Nato nur als Militärallianz und militärische Einsätze als das alleinige oder erste Mittel zur Konfliktlösung misszuverstehen, würde unser Denken um Jahrzehnte zurückwerfen. Rüstungskontrolle ist schon seit den 70er Jahren integraler Bestandteil westlicher Sicherheitspolitik. Sie muss entschlossen fortgesetzt werden.

Im Kampf gegen die Ausbreitung von Atomwaffen muss die Glaubwürdigkeit des Atomwaffensperrvertrages wieder hergestellt werden, indem die USA und Russland ihre in diesem Vertrag übernommenen Verpflichtungen zu nuklearer Abrüstung erfüllen. Europa – und vor allem Deutschland – hat in der Vergangenheit die Politik der Nato maßgeblich beeinflusst, auch wegen des großen deutschen Beitrags zur gemeinsamen Sicherheit. Jetzt muss sich Europa auch im militärischen Bereich für die Zusammenfassung seiner Ressourcen entscheiden, mit dem Ziel europäischer Streitkräfte. Das Nebeneinander im Entwickeln, Ausrüsten und Bewaffnen bedeutet einen Verzicht auf große Synergieeffekte, den sich Europa nicht leisten kann. Das geht zu Lasten unserer Soldaten, was Ausbildung, Ausrüstung, Bewaffnung und Versorgung betrifft, und es geht zu Lasten der europäischen Fähigkeiten. Vor wie nach Istanbul muss sich der europäische Pfeiler der Nato zu gemeinsamer Anstrengung entschließen und das Bündnis eine neue politische und sicherheitspolitische Strategie als Gemeinschaft gleichberechtigter Partner entwickeln. Ein Harmel II wird gebraucht. Dass der deutsche Verteidigungsminister das erkannt hat, lässt hoffen.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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