zum Hauptinhalt
Miroslav Klose will mit Deutschland jetzt endlich den Titel - doch das Jahrhundertspiel der WM ist schon vorbei.

© Reuters

WM 2014: In Brasilien hat der Fußball seinen Urinstinkt gefunden

Der Fußball kann wieder überraschen, weil diese WM ihm etwas geschenkt hat: Raum zum Rennen und zum Flanken, Raum für Ideen. Noch in vielen Jahren werden die vergangenen Spiele leidenschaftlich diskutiert werden - allen voran das Jahrhundertspiel Deutschland gegen Brasilien.

Eine schöne, kribbelnde Ungewissheit hat sich gerade bei uns ausgebreitet. Weil das Finale einer WM natürlich das wichtigste Fußballspiel der Welt ist und die deutsche Nationalelf keine schlechten Aussichten hat, es heute zu gewinnen. Aber da ist noch etwas. Dieses Turnier, das haben die vergangenen viereinhalb Wochen gezeigt, ist wirklich für alles gut.

In Brasilien hat der Fußball seinen Urinstinkt gefunden: alle zu überraschen. Sich einfach nicht ausrechnen zu lassen. Da kann es noch so viele Statistiken und Tabellen geben. Auf dem Rasen findet eine wundersame Verwandlung statt – flüchtige Bewegungen werden zu festem, haltbarem Erzählstoff. Diese WM hat Vorstellungen geboten, über die noch in vielen Jahren leidenschaftlich diskutiert werden kann. Etwas Besseres hätte dem Fußball nicht passieren können.

Diese WM hat dem Fußball etwas geschenkt

Wer von diesen Vorstellungen früh ausgeschlossen wurde – Italiener, Spanier, Engländer etwa – mag dieses Turnier als launisch empfunden haben, sich gekränkt davon abwenden, wie verlassen von der Geliebten. War ich ihr denn nicht stark genug? Doch wer dringeblieben und drangeblieben ist, konnte sich von der impulsiven Art mitreißen lassen.

Überraschen kann der Fußball wieder, weil diese WM ihm etwas geschenkt hat: Raum. Raum zum Rennen und zum Flanken, Raum für Ideen. Das Fußballfeld lag in Brasiliens Stadien wieder weit und offen vor Spielern und Publikum, befreit von der Enge des bis dahin herrschenden spanischen Tiki-Taka. Das 1:5 der Spanier gegen Holland beendete eine Ära und leitete eine neue ein, es war auch der erste Knalleffekt dieses Turniers. Später folgte ein noch viel größerer.

Das System der Spanier mag technisch und taktisch höchst anspruchsvoll sein, doch an ihm haftet etwas Maschinelles. Eine Technisierung war ohnehin für diese WM befürchtet worden, der ersten, bei der Kameras darüber entscheiden konnten, ob der Ball im Tor war oder nicht. Doch es ging in Brasilien ausgesprochen menschlich zu, Uruguays Luis Suarez wollte sich gar in seinem Gegner festbeißen. Das an manchen Spielorten zehrende Klima, aber wohl auch die Begeisterung in den Stadien verhinderten kühle Perfektion und ermöglichten zugleich faszinierende Dynamik.

Deutschland vs. Brasilien: Die Mondlandung ohne Ankündigung

Doch jetzt zum Höhepunkt. Zur Mondlandung ohne Ankündigung. Auch das letzte Jahrhundertspiel war ein WM-Halbfinale, 1970 zwischen Deutschland und Italien. Nur dass sich beim 7:1 der Nationalelf gegen Brasilien nicht die Spannung immer weiter steigerte – dafür hat wohl noch nie ein Fußballspiel so viele unterschiedliche Gefühle in so kurzer Zeit beim Publikum des Siegers ausgelöst. Es begann mit Freude über Tor eins, ging weiter mit Staunen über die nächsten Treffer, wuchs zur Ekstase, blieb auf dem Höhepunkt des Torrauschs kurz wie angewurzelt stehen und kippte schließlich in ein Mitgefühl gegenüber den unterlegenen Gastgebern.

Aber diese WM betreibt Überraschung nicht mit System. Sonst hätte nicht schon einen Abend später Holland gegen Argentinien das Publikum mit Langeweile zu vergiften versucht. Brasilien hat der Welt auf jeden Fall ein großartiges Erlebnis beschert. Bei den nächsten Weltturnieren muss der Fußball sich wieder etwas einfallen lassen, wenn er nicht mehr sein Paradies als Kulisse hat, sondern Russland und Katar. Doch vorher denken wir lieber ans nächste Spiel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false