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Meinung: Wo der Frühling ist

Blüten zwischen Nazi-Schockern: Die echten Sensationen der Buchmesse sind unscheinbar

Es war zu abzusehen, dass auch der Leipziger Bücherfrühling von der 60. Wiederkehr des Kriegsendes dominiert werden würde. Aber dass der belletristisch Interessierte so beträchtliche Mühe haben würde, im hochgeschossenen Dickicht von Nazi-Schocker-Sachbüchern nach den zarteren literarischen Prosa-Pflänzchen zu suchen, erstaunt dann doch. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ resignierte vorab und vermerkte mürrisch: „Der Frühling ist anderswo.“

Dabei darf der Literaturfreund gespannt sein auf die neuen Bücher der etablierten Autoren der jüngeren Generation: etwa auf den Roman „Kirillow“ von Andreas Maier (siehe Seite 32). Oder auf das Erzähldebüt von Roger Willemsen (S. 32) . Und was soll man vom Roman „Der Eisvogel“ des Bachmann-Preisträgers Uwe Tellkamp halten (S. 30)? Gibt es hier einen neuen, spezifisch konservativen Erzählton?

Aber gleich zwei Sachbuch-Sensationen erschütterten den Blätterwald im Vorfeld der Buchmesse, die heute Abend eröffnet wird, so turbulös, dass die Aufmerksamkeiten einrasten mussten. „Neues Buch deckt auf: Hitler testete die Atombombe“ schlagzeilte die „Bild“ über das Buch des Historikers Rainer Karlsch, das anhand von neuem Material die Kernwaffenexperimente in Nazi-Deutschland untersucht. Der Titel des Buches: „Hitlers Bombe“. Und Götz Alys wirtschaftshistorische Studie „Hitlers Volksstaat“ will die Nazi-Herrschaft als „Gefälligkeitsdiktatur“ neu beschreiben und lobt nebenbei den aktuellen Sozialabbau als überfälligen „Abschied von der Volksgemeinschaft“ (S. 31).

Das Problem bei beiden Büchern scheint zu sein, dass akribische historische Facharbeit, verpackt in sensationsheischende Thesen, präsentiert wird. Der Sachbuchmarkt setzt seine Autoren offenbar unter immer stärkeren Druck. Die Seriosität muss leiden. In Sachen „Hitlers Volksstaat“ flammte inzwischen in der „taz“ eine Debatte zwischen dem Autor und dem Cambridger Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze über fundamentale Rechenfehler in Alys Studie auf. Und „Hitlers Bombe“ scheint doch eher ein Bömbchen gewesen zu sein: Er habe nie behauptet, so der Autor auf einer Pressekonferenz, dass das, was 1945 in Thüringen getestet worden sein soll, eine Atombombe gewesen sei. Sollten die Medien das anders verstanden haben: „Sorry.“ Und der Titel des Buches?

Als im thüringischen Ohrdruf im März ’45 angeblich eine Kernwaffe getestet wurde, war der 28-jährige Fred Wander im benachbarten KZ interniert, einem Außenlager von Buchenwald. Wenige Tage später begann ein Todesmarsch. Wander überlebte, veröffentlichte 1971 den KZ-Roman „Der siebente Brunnen“ (S. 31). Dieses unscheinbare Bändchen, dieses große Buch war schon fast vergessen, als ein gewissenhafter Verleger es nun neu auflegte. Für diese Wiederentdeckung müssen wir dankbar sein. Das Gestrüpp schießt ins Kraut. Die Blüten sind anderswo. Und manchmal macht ein gutes Buch den ganzen Frühling.

Marius Meller

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