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Meinung: Wo ist Gott?: Der große Schweiger

Ereignisse brechen manchmal unvermittelt in unser Leben ein und lassen die Zeit für einen Augenblick stillstehen. So ging es uns auch nach dem 11.

Ereignisse brechen manchmal unvermittelt in unser Leben ein und lassen die Zeit für einen Augenblick stillstehen. So ging es uns auch nach dem 11. September. Wir sind geschockt. Erinnern Sie sich noch an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg? Deutschland lag nicht nur zerbombt unter Trümmern, sondern die seelischen Folgen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft hatten unter anderen bildende Künstler, Literaten und Musiker fragen lassen: Können wir nach Auschwitz noch Bilder malen, Gedichte schreiben oder Lieder singen? Die Geschichte hat eine Antwort gegeben: Ja, wir können es. Es wurden wieder neue - zum Teil wunderschöne, aufregende, wachrüttelnde - Bilder gemalt, Gedichte geschrieben und rezitiert, Lieder gesungen und neue Musik komponiert. War der Schrecken nicht groß oder anhaltend genug? Vergisst der Mensch zu schnell?

Die Frage nach Gott in jedwedem Terror stellt sich für jeden Menschen neu. "Wie kann Gott das zulassen?" Es hilft nicht der Verweis auf das uralte Theodizeeproblem, das die Frage nach dem offensichtlichen Widerspruch zwischen einem liebenden Gott und dem Leid in der Welt wach hält. Nach dem Zweiten Weltkrieg lernte ich einen nach Schweden emigrierten Polen kennen, der als Vierzehnjähriger von den Nazis in ein KZ eingesperrt wurde. Er hatte mit seinen geringen Möglichkeiten gegen die deutschen Besatzer agiert. Er erlebte nicht nur, wie um ihn herum gedemütigt, gefoltert und gemordet wurde, sondern er selbst war unvorstellbaren Brutalitäten ausgeliefert. Er sagte mir: "Ich bin fast an Gott verzweifelt. Ich habe mich gefragt, wie kann es einen Lieben Gott geben, wenn das hier alles möglich ist und Er tatenlos zusieht?" Und er fügte an: "Fast hätte ich mir das Leben genommen. Ich schrie nach Gott und konnte doch kaum mehr glauben, dass es Ihn gibt. Hätte ich aber letztlich den Glauben an Ihn verloren, ich hätte das Leben nicht mehr ertragen und mich umgebracht." Er ist durch Mithilfe eines "Krankenwärters" gerettet worden, hat mit seinen Fragen weitergelebt.

Die Antwort? Sie hat mich seither umgetrieben. Ich werde immer wieder auf Jesus Christus verwiesen. Die Hinrichtungsszene auf Golgotha: Dort hängt der in unsere Geschichte eingetretene Gottessohn wie ein Verbrecher am Kreuz. Die Arme ausgebreitet. Hände und Füße angenagelt. Um ihn herum ein Häuflein Getreuer und johlende Neugierige oder Besserwisser, die spotteten: "Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. König von Israel ist er; er steige nun herab vom Kreuze, und wir wollen an ihn glauben. Er hat auf Gott vertraut; der errette ihn nun, wenn er Wohlgefallen hat an ihm; er hat ja gesagt: Ich bin Gottes Sohn!" (Mt 27,43f.) Christus ist nicht vom Kreuz herabgestiegen. Aber sein Tod am Kreuz ist für uns Glaubende nicht das katastrophale Ende. Dem Karfreitag folgt der Ostersonntag und damit die Auferstehung. Ohne Ostern könnte ich den Karfreitag nicht aushalten, ohne den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode auch nicht die innergeschichtlichen Ungerechtigkeiten ertragen. Gott lässt das Böse zu. Aber er bleibt auch in seinem Schweigen der Herr der Geschichte und der Richter, der das letzte Wort hat. Das Böse bleibt nicht ungestraft. Der Geschundene nicht ungesühnt. Der Betrogene nicht unvollendet.

Friedhelm Hofmann

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