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Meinung: Wo Ist Gott?: Im Gegenüber

Diese Frage habe ich mir wie viele andere Mitmenschen gewiss auch schon häufig gestellt. Meistens dann, wenn etwas für mich Furcht erregendes oder nicht Fassbares geschieht.

Diese Frage habe ich mir wie viele andere Mitmenschen gewiss auch schon häufig gestellt. Meistens dann, wenn etwas für mich Furcht erregendes oder nicht Fassbares geschieht. Aber wer gibt Antwort? Staatliche Institutionen sicherlich nicht. Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, die gelernt hat, mit Widersprüchen zu leben. Religion und Glaube sind Privatangelegenheit. Gott findet sich in der Öffentlichkeit auf Kalenderfeste und Bräuche beschränkt. Die Trennung von Glauben und Wissen, von religiösen Geboten und staatsbürgerlichen Maximen ist zu Recht ein grundlegendes Prinzip unserer Gesellschaft. Dahinter können und wollen wir nicht zurück.

Aber beides hat seine Berechtigung, und das eine muss dem anderen nicht nachgeordnet sein. Ohne die Grundlagen eines lebendigen Glaubens hätte es große Teile der Widerstandsbewegung des 20. Juli nie gegeben. Ohne die rechtlichen und ethischen Grundlagen der Demokratie aber auch kein Bündnis gegen den Terror des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen universale Prinzipien, die mit den je unterschiedlichen religiösen und kulturellen Traditionen der Menschen verknüpft werden können. Und wir haben solche Prinzipien in den Grundaussagen der Religionen, in der Erklärung der Menschenrechte und in den Grundrechten unserer Verfassung.

Diese Werte müssen wir mit Leben erfüllen. Das ist eine Aufgabe, die wir nicht delegieren können, weil sie jeden von uns betrifft: vor allem in der Familie und im Freundeskreis, aber auch in den Erziehungsinstitutionen. Erziehung, wo immer sie stattfindet, ist ohne Bezug zu Werten und Normen nicht denkbar. Herr Gysi hat Recht, wenn er sagt: Eine gottlose Gesellschaft wäre heute eine wertelose Gesellschaft. Aber ich glaube, dass die von ihm formulierte Alternative - "eine Unterrichtung über Religion" statt einer "Unterrichtung zu einer bestimmten Religion" - sich produktiv überwinden ließe. Wichtiger als das Verharren in Grundsatzpositionen - das gilt übrigens für alle Beteiligten, auch die Kirchen - ist doch ein gesichertes Angebot für alle Kinder und Jugendlichen. Ein Angebot, das ihnen Orientierung an Werten und Normen ermöglicht und ihnen Maßstäbe zur Gestaltung ihres eigenen Lebens anbietet. Und das Anpassungszwänge oder gar Indoktrination ausschließt. Die Religionsmündigkeit bestreiten will wirklich niemand.

Berlin ist eine Stadt, in der viele Kulturtraditionen nebeneinander bestehen. Unterschiedliche Religionen und Lebensauffassungen prägen das Bild dieser Stadt. Wir sind stolz auf diese Vielfalt und Toleranz, die Berlin schon immer geprägt haben. Dies gilt es zu erhalten. Und das heißt, die Vielfalt als Chance zu sehen. Nicht "anything goes", sondern feste Überzeugungen ohne Dogmatismus.

Und wo ist Gott? Mit Hans Jonas könnte man sehr schlicht antworten: in der Freiheit des Menschen, in der Verantwortung für das eigene Tun, der Achtung des Gegenüber, das mit den selben Rechten und Pflichten ausgestattet ist, und in der Selbstbindung an moralische und rechtliche Grundprinzipien. Diese Freiheit hat ihren Doppelcharakter von Religion und Politik nie verloren. Daraus erwächst ihre ganz besondere Herausforderung.

Der Autor ist Schulsenator des Landes Berlin.

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