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Meinung: Wo sind die Christen in dieser Stadt?

Die Trauer eines Kirchenmannes über die Berliner CDU / Von Klaus Mertes

Ich habe die Angelegenheit der Familie Aydin als Vertreter des Erzbistums Berlin in die Härtefallkommission eingebracht. Die Härtefallkommission stimmte für ein Ersuchen an den Innensenator, der Innensenator lehnte ab. Danach begann die Eskalationsgeschichte des „Falles Aydin“. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Angelegenheit in der Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin vom 4. Mai 2006. Dort stimmten schließlich die Vertreter der SPD und der CDU gegen ein Bleiberecht für die ganze Familie.

Politik hat immer auch eine taktische Dimension. Für SPD-Abgeordnete ging es bei der Abstimmung natürlich auch um die Loyalität zu ihrem SPD-Senator. Die Enthaltung der PDS hat koalitionspolitische Gründe. Man mag die taktischen Überlegungen unterschiedlich gewichten, aber eines ist klar: Die Berliner CDU-Abgeordneten hatten kein unmittelbares, taktisches Interesse, das es mir, wenn auch nicht in der Sache einsichtig, so doch plausibel machen würde, warum sie sich so entschieden haben. Die Berliner CDU ist also wirklich der Meinung, dass hier eine Familie auseinander gerissen werden soll und die Eltern mit vier Kindern nach 17 Jahren in Deutschland zurück nach Kurdistan abgeschoben werden sollen.

Wenn es in einer konkreten Frage darum geht, Humanität und Vernunft zusammenzubringen, dann kann dem einen Christen nicht egal sein, wie der andere (Christ oder Nicht-Christ) in dieser Frage urteilt. Dies nämlich gehört zum Kernbestand christlicher Überzeugung: Humanität und Vernunft gehören zusammen; Gott ist die Quelle beider. Bei Humanität geht es nicht nur um Gefühle, und bei der Vernunft geht es nicht nur um strategische und taktische Fragen, sondern auch um die Erkenntnis des Guten, des Gesollten.

Dennoch lässt mich das klare Nein der Berliner CDU-Abgeordneten, von denen ich noch keinen nennenswerten Beitrag zu diesem aufwühlenden Fall gehört habe, nicht los. Ist nicht dieselbe Partei zurzeit daran, das C wieder hochzuhalten, und zwar in derselben migrationspolitischen Debatte, um die es ja im „Fall Aydin“ auch geht, nur am anderen Zipfel des Tuches? Auf die Nachrichten aus der Rütli-Schule höre ich empörte Rufe nach harter Bestrafung und Abschiebung von ausländischen Jugendlichen, von denen jeder weiß, dass sie meist gar nicht abgeschoben werden können, weil sie ein Aufenthaltsrecht haben oder gar deutsche Staatsbürger sind.

Leider häufen sich aus der CDU die eskalierenden Stimmen; sie nehmen die Vorgänge in Neukölln zum Anlass, alte Wunden aus der Leitkultur- und Multikulti-Debatte zu lecken und den „nicht integrierten Ausländern“ mit dem Hammer zu drohen. Die Rhetorik steckt an. Selbst aus dem linken Lager wird vom „Scheitern der Kuschelpädagogik“ geredet und vom Ende der „Toleranz um jeden Preis“.

Doch das ist nicht alles. Da entdecken Berliner CDU-Leute (und einige andere) plötzlich, dass wir eine vom „Christentum geprägte Kultur“ sind. Und schwuppdiwupps ist der Begriff des Christlichen leitkulturmäßig instrumentalisiert. Bizarr und, ja, abstoßend wird es, wenn sich dieselbe Berliner CDU auf die Fahnen schreibt, den Bau einer Moschee in Pankow zu verhindern, und dies ein paar Monate vor einer Wahl. Gegen eine christliche Kirche hätte man an derselben Stelle nichts einzuwenden. Da dies alles ein wenig islamophob klingt, klebt man den muslimischen Betreibern des Moscheebaus schnell das Etikett „Sekte“ auf. Die Presse hat es bereits übernommen. Von der „Ahmadiyya“ selbst freilich hat man noch nie etwas gehört oder gelesen, geschweige denn man wäre einem Muslim aus dieser Richtung schon einmal begegnet oder hätte Freundschaft mit ihm geschlossen.

So kann man vielleicht reden und handeln, wenn man ein instrumentelles Verhältnis zur Religion hat. Ein gläubiger Christ aber kann einem gläubigen Muslim so nicht begegnen. Interreligiöse Begegnung gibt es nur, wenn die eigene Angst und Unsicherheit gegenüber dem Fremden zugegeben und durch geistliches Hören in Offenheit verwandelt wird.

In meiner Eigenschaft als Religionslehrer und Rektor einer katholischen Schule in Berlin beunruhigt mich eines immer mehr: Es ist ausgerechnet diese Berliner CDU, die sich im „Fall Aydin“ einmütig und ohne (jedenfalls für mich erkennbare) Teilnahme an der Debatte gegen ein Bleiberecht für die Familie ausgesprochen hat, die sich im Wahlkampf für das Wahlpflichtfach Ethik/Religion einsetzt. Ich befürworte ebenfalls ein Wahlpflichtfach Religion. Es könnte Berlin auch aus integrationspolitischen Gründen nichts Besseres passieren. Bekennende muslimische und christliche Religionslehrer gemeinsam mit bekennend religionskritischen Philosophen in einem Kollegium: Was für eine Perspektive! Warum können PDS und SPD diese Vision nicht teilen? Ist es derselbe Abwehrmechanismus gegenüber dem Fremden, das hier nur einfach „Religion“ genannt wird?

Die Entscheidung der SPD für ein allgemein verpflichtendes LER-Fach (Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde) war in der Form, in der sie gelaufen ist, die schul- und kulturpolitische Panikreaktion auf den Sürücü-Ehrenmord; dieser war der Tropfen, der bei einigen Leuten ein bestimmtes Fass hat überlaufen lassen. Titel des Fasses: „Die Religionen sind, wenn sie ernstlich geglaubt werden, gefährlich, schädlich.“ Große Teile der SPD und PDS leben da noch aus der Religionskritik früherer Jahrhunderte. Diese scheint für sie Bekenntnischarakter zu haben. Der Rest ist Defensive gegenüber der Religion, dem Fremden.

Und die Berliner CDU? Verbindet sie mit ihrem Plädoyer für das Wahlpflichtfach Religion wirklich ein integrationspolitisches Anliegen? Und wenn ja, welches? Wenn es ihr um Integration ginge, müsste sie ihre Rhetorik gegenüber den Muslimen schlagartig ändern. Sie müsste Muslime – und zwar die konkreten Muslime wie die Familie Aydin, die Familien aus der Rütli-Schule und die vielen anderen – als religiöse Menschen, als gläubige Menschen ernst nehmen. Und sie müsste dann auch das Christentum als eine Religion respektieren lernen, die sich der Instrumentalisierung für integrationspolitische Zwecke verschließt, ebenso wie für alle anderen Zwecke außer dem einen: Gottes- und Nächstenliebe, Gott im Nächsten, der Nächste in Gott. Es ist eben ein Paradox: Religion lässt sich nur integrieren, wenn sie respektiert wird, auch in ihrem nicht-instrumentalisierbaren Überschuss, der ihr Herzstück ist und der ihre kulturbildende Kraft ausmacht.

Die Berliner CDU-Abgeordneten haben im Fall Aydin abgestimmt. Was die Entscheidung mit ihrem C zu tun hat, verstehe ich nicht. Ich schäme mich, wenn ich als Kirchenmann mit dieser Berliner CDU im Boot eines gemeinsamen Kampfes gegen das Einheitsfach LER sitze.

Der Autor, ein Pater, ist kirchlicher Vertreter in der Berliner Härtefallkommission und Rektor des Canisius-Kollegs.

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