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Meinung: Wollen Sie diesen Artikel lesen?

Wir tun, was wir tun wollen. Das denken wir jedenfalls. Aber vielleicht ist unser Gehirn nur Spielball tausender Neuronen.

Schön, dass Sie da sind. Bei den vielen Seiten, die so eine Zeitung hat! Und da entscheiden Sie sich für diese. Dabei wird es nicht unbedingt angenehm werden. Ihr Selbstbild steht auf dem Spiel.

Sie sind noch hier. Damit wären wir unter uns. Kommen wir gleich zur Sache und stellen die entscheidende Frage: Was tun Sie hier? Warum lesen Sie diese Seite? „Na, warum wohl?“, antworten Sie, „weil ich es will!“

Dann wollen wir mal sehen, ob Ihre Hypothese stimmt.

Erste Station: Montreal, Kanada, Mitte des letzten Jahrhunderts. Wir befinden uns in einem Operationssaal. Ein Neurochirurg beugt sich über den aufgeklappten Schädel eines Epilepsie-Patienten und stimuliert mit einem dünnen Draht, durch den ein schwacher Strom fließt, dessen Gehirn. Der Patient ist bei vollem Bewusstsein.

Was sich nach Science-Fiction anhört, ist in Wahrheit Geschichte. In den 1940er und 50er Jahren hat der Kanadier Wilder Penfield, ein Pionier der Hirnchirurgie, Hunderte von Epileptikern auf diese Weise untersucht. Warum? Wenn man epileptisches Gewebe oder einen Tumor entfernen will, besteht das Ziel darin, so viel wie möglich kranke und so wenig wie nötig intakte Hirnmasse zu entfernen. Mit Hilfe von leichten Elektroreizen versucht man herauszufinden, wo das geschädigte Gewebe aufhört und das gesunde beginnt.

Irgendwann während der OP des Epileptikers trifft der Chirurg Penfield auch das Hirnzentrum, das den Arm steuert (einer dieser Teile, die man lieber nicht wegoperiert) – und der Arm des Mannes bewegt sich. Gespenstisch fällt die Antwort aus, als der Arzt seinen Patienten fragt, warum er denn gerade seinen Arm bewegt habe. Er sagt: „Weil ich es wollte!“

* * *

Weil ich es wollte! Meinen Sie immer noch, dass Sie diesen Artikel aus freien Stücken lesen? Vermutlich schon. Bis jetzt gibt es noch keinen Anlass, ernsthaft an Ihrer Hypothese zu zweifeln. Es war schließlich kein Chirurg, der Ihr Gehirn gereizt hat und so dafür sorgte, dass Sie diese Seite aufschlugen. Nein, dass dahinter Ihr Wille stand, ist nach wie vor eine plausible Vermutung.

Aber wir stehen ja erst am Anfang.

Zweite Station: Die Intuition und die Wissenschaft. Fast jeder von uns hat das Gefühl, er verfüge über einen Willen, mit dem er freie Entscheidungen treffen kann. Dieser Wille, glauben wir, stößt (nicht immer, aber oft) unsere Handlungen an. Wenn Sie nur wollten, könnten Sie auf der Stelle ihre Hand auf die Zeitung zusteuern und sie in den Müllkorb befördern.

Sie wollen das nicht. Sie wollen weiterlesen. Denn es gibt noch eine andere Seite. Dort stehen die Skeptiker. So, wie wir uns das vorstellen, sagen die Skeptiker, kann es nicht sein. Sie zweifeln am freien Willen. Sie sagen: Wir alle unterscheiden uns in gewisser Hinsicht nicht von Penfields Patient. Der freie Wille ist eine Illusion.

Diese Skepsis hat eine ehrwürdige Tradition. „Der Mensch kann, was er will“, schrieb schon der Philosoph Schopenhauer. „Er kann aber nicht wollen, was er will.“ Spinoza glaubte, nur Gott habe Willensfreiheit. Auch Nietzsche hielt den Menschen für absolut unfrei. Und Einstein fragte sich einst: „Ich weiß ehrlich nicht, was die Leute meinen, wenn sie von der Freiheit des menschlichen Willens sprechen. Ich spüre, dass ich meine Pfeife anzünden will, und tue das auch; aber wie kann ich das mit der Idee der Freiheit verbinden? Was liegt hinter dem Willensakt, dass ich meine Pfeife anzünden will? Ein anderer Willensakt?“

Für den Schöpfer der Relativitätstheorie – wie auch für viele andere Denker – war der freie Wille rein physikalisch ein Ding der Unmöglichkeit: In der Natur reiht sich Kausalkette an Kausalkette. Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Genau das aber müsste ein Willensakt sein, den man als „frei“ bezeichnen könnte. Er müsste die Naturgesetze brechen und „aus sich heraus“, ohne Ursache, neue Ereignisketten bewirken. Einstein erschien ein solcher unbewegter Beweger absurd.

Die Einwände gegen den freien Willen sind somit nicht neu – neu ist aber, dass sich nun auch die Neurobiologie mit auf die Seite der Skeptiker schlägt. Mit empirischen Mitteln will sie den freien Willen ein für allemal widerlegen.

Womit wir bei der dritten Station wären: dem Experiment, das die alte Debatte wiederbelebt hat.

Na gut, sagte sich Benjamin Libet, Neurologe an der Universität von Kalifornien in San Francisco, mag ja sein, dass das Prinzip der Kausalität fürs Universum gilt, für eine Sternenexplosion oder einen Wolkenbruch. Aber vielleicht ist der Wille nicht von dieser Welt? Vielleicht ist er von einer anderen, nicht-stofflichen, immateriellen Welt. Die Idee der zwei Welten („Dualismus“) hatte schon der französische Philosoph René Descartes vertreten.

Der Vorteil dieser Vorstellung: Ein Wille von rein „geistiger“ Beschaffenheit wäre dem Gesetz der Kausalität nicht unterworfen und könnte, theoretisch, Entscheidungen in völliger Freiheit treffen. Der Nachteil: Wie ein solcher Luftikus dazu fähig wäre, Gehirn und Körper zu einer Handlung anzustoßen, bleibt offen. Materie kann nur durch Materie oder Energie bewegt werden. Wie also soll etwas Immaterielles, das per definitionem weder aus Materie besteht noch Energie besitzt, irgendwas bewirken können?

Diese Erkenntnislücke sollte Libet nicht von dem Versuch abhalten, den Dualismus experimentell zu belegen. In den 1970er Jahren erfand er einen genialen Test, mit dem er den freien Willen dingfest zu machen hoffte (zwei Neurobiologen in London wiederholen und verfeinern diesen Versuch bis auf den heutigen Tag, und immer wieder bestätigen sie Libets Resultat). Der Forscher bat Versuchspersonen, ihre Hand zu einem frei gewählten Zeitpunkt zu bewegen. Währenddessen sahen die Probanden auf eine Uhr. Sie sollten sich genau merken, wann sie sich für ihre Handbewegung entschieden hatten. Gleichzeitig registrierte Libet mit dem EEG (Elektroenzephalogramm) die Hirnaktivität der Probanden.

Jetzt benötigte der Forscher für seinen Beweis nur noch folgenden Befund: Die Entscheidung, den Arm zu bewegen, sollte vor dem Auftauchen von Hirnaktivität stattfinden. Nach der Vorstellung des Dualismus treffen wir ja zuerst in Freiheit und jenseits der messbaren, materiellen Welt unsere Entscheidungen, dann aktiviert unser Geist das Gehirn – und der Arm bewegt sich.

Die Verblüffung folgte auf dem Fuß. Als Libet einen Blick auf die Daten warf, traute er seinen Augen nicht: Er, der ausgezogen war, den freien Willen nachzuweisen, stellte fest, dass der Entschluss der Probanden nicht etwa vor der Hirnaktivität fiel. Es verhielt sich genau umgekehrt: Die Entscheidung, die Hand zu bewegen, trafen die Versuchspersonen bis zu einer halben Sekunde nachdem sich bereits Erregung in dem Hirnbereich zeigte, der die Hand steuert.

Im Klartext: Als die Versuchspersonen den Entschluss fassten, ihren Arm zu bewegen, war ihr Gehirn bereits seit einiger Zeit dabei, genau diese Armbewegung vorzubereiten. Unser Wille hinkt dem Hirn hinterher. „Wir tun nicht, was wir wollen“, bringt der Münchner Psychologe Wolfgang Prinz das Phänomen auf den Punkt, „wir wollen, was wir tun.“ Wie es auch bei Penfields Patient der Fall gewesen war.

* * *

Libets Experiment ist nicht frei von Schwächen. So hatten die Probanden den grundsätzlichen Entschluss, ihren Arm irgendwann während des Versuchs zu bewegen, wohl schon vor der Messsituation gefasst. Die eigentliche Willensentscheidung, werfen Kritiker ein, hat der Forscher also nicht gemessen. Überhaupt weise sein Test, um es vorsichtig zu formulieren, eine gewisse Distanz zum wirklichen Leben auf. Was beispielsweise hat ein Armzucken im Labor mit der Frage zu tun, ob ich statt Simon lieber Sven oder statt Sandra lieber Sina heirate?

Andere meinen, Libets Befund füge sich wie ein Puzzlestück in das neue Bild, das die Hirnforschung von uns zu zeichnen beginnt. Dieses Bild sieht so aus: Das Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, den Neuronen, ist immer in Bewegung. Ständig bilden die Zellen in unserem Kopf Koalitionen, die miteinander in einen Wettbewerb treten. Sie drängeln sich in den Vordergrund und versuchen, sich gegenseitig abzuschalten. Etwas dramatisch ausgedrückt: Sie ringen um die Macht. Neuronaler Darwinismus.

Da regen sich zum Beispiel Neuronen, die Sie dazu veranlassen könnten, eine Tasse Kaffee zu trinken. Die haben im Moment keine Chance. Gewonnen hat das Rennen diesmal vielmehr der Zellverband, der Sie dazu veranlasst, diesen Artikel zu lesen. Genau genommen ist es natürlich falsch zwischen den „Neuronen in Ihrem Kopf“ und „Ihnen“ zu unterscheiden. Denn Sie sind dieses flackernde Muster Ihrer Neuronen – auch wenn die Zellen im Kopf ihre Arbeit weitgehend im Stillen, sprich: unbewusst erledigen.

Dann gibt es noch einen kleinen Teil des Gehirns, der das hervorbringt, was wir „Bewusstsein“ oder „Ich“ nennen. Diese besonderen Neuronengruppen haben eine lästige Aufgabe: Sie sollen Ordnung ins Chaos bringen und sich einen Reim auf unser Verhalten machen. Da unsere Taten von Kräften abhängen, die uns nicht bewusst werden, tappt das Ich bei seinen Deutungsversuchen weitgehend im Dunkeln. In seiner Erklärungsnot schreibt es sich die meisten unserer Handlungen selbst zu. Es sagt zum Beispiel: „Ich lese diesen Artikel, weil ich es will.“

Das heißt: Wir meinen zwar, Herr im Haus zu sein. In Wahrheit aber sind es die vielen unbewussten Hirnregionen, die unsere Entscheidungen treffen. Ihr bewusstes Ich ist nicht die Steuerzentrale. Es ist „nur“ derjenige Hirnteil, der Ihr Verhalten erklärt, und dabei geht er nicht selten in die Irre – wie es schon der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, vor Jahrzehnten vermutet hatte.

Das Gesetz der Kausalität, Penfields Patient, Libets Befund, die Macht des Unbewussten – zusammengefasst lässt das Bild, das hier von unserem Selbst entworfen wird, nur noch wenig Raum für so etwas wie einen freien Willen. Welche Folgen hätte es, würde sich dieses Menschenbild durchsetzen? Aufklärung und Demokratie fußen auf der Vorstellung, dass wir souveräne Bürger sind, ausgestattet mit der Fähigkeit zur freien Willensentscheidung. Was, wenn sich diese Idee als Illusion herausstellen sollte?

Einige Hirnforscher spekulieren bereits über die Konsequenzen ihrer Erkenntnisse. Sie sagen: Wir werden in Zukunft zu einer anderen Vorstellung von Schuld und Sühne kommen. Konzepte wie „Schuld“ und „Recht“ stehen und vergehen schließlich mit der Frage, ob ein Mensch frei entscheiden kann. Kann er das nicht, trifft ihn auch keine Schuld – und man kann ihn nicht richten.

* * *

Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, glaubt, dass die Entdeckungen der Neurobiologie zwar an unserer Rechtspraxis nicht viel ändern werden. Wir werden einen Serienmörder nach wie vor wegsperren. Aber unsere Sichtweise könnte sich ändern. Ein kaltblütiger Killer käme nicht ins Gefängnis, weil wir ihn bestrafen, sondern weil wir uns vor ihm schützen müssen. Man würde in Zukunft also nicht mehr von „Strafmaß“, sondern von „Schutzmaß“ sprechen.

Reine Spekulation, sagen andere. Kann ja sein, dass sich der freie Wille naturwissenschaftlich nicht belegen lässt. Na und? Ist er damit automatisch widerlegt? Nein. Beispielsweise weiß jeder, der schon mal beim Zahnarzt war, was Schmerzen sind. Und doch kann kein Hirnforscher unseren Schmerz messen. Er sieht das „Feuern“ bestimmter Neuronen im Kopf. Die Schmerzen selbst aber kann er damit nicht spüren, er „sieht“ sie nicht. Das „Schmerzhafte“ am Schmerz bleibt ihm verborgen – als Wissenschaftler. Es ist eine Realität, die nur subjektiv existiert. Sind unsere Zahnschmerzen deshalb eine Illusion?

Vielleicht verhält es sich ganz ähnlich mit der Willensfreiheit. Vielleicht gibt es sie, aber nur in unserer Vorstellung. Dann wäre der freie Wille so real und so unfassbar wie der Zahnschmerz.

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