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Meinung: Wozu Philosophie?

Geschichtsdeuter sind selbstgerecht, Analytiker selbstgenügsam – aber es gibt einen dritten Weg der Welterklärung

Noch vor einigen Generationen beschränkten viele Philosophen ihr Geschäft, das Geschäft der Vernunft, auf die Analyse der Bedeutung von Wörtern. Sie wollten nur den Unsinn nachweisen, den man redet, wenn man der Vernunft mehr zutraut. Heute trauen die Philosophen sich und der Vernunft auch konstruktive Aufgaben zu. Die Ethik liefert dafür ein Beispiel.

Moralphilosophen sind sich weitgehend einig: Sie können ihre Theorien an etwas überprüfen, was sie moralische Intuitionen nennen und was früher die Stimme des Gewissens hieß. Unsere Intuition, dass wir Kinder nicht zum Spaß grillen dürfen, ist stärker als jedes Prinzip, das ihr Grillen unter Umständen erlauben könnte. Moralische Intuitionen spielen in der Ethik dieselbe Rolle wie Beobachtungen in der Physik. Aus ihnen allein lässt sich keine Theorie ableiten; dafür braucht man vielmehr Gedanken, Ideen, die Intuitionen einen Sinn geben. Aber sie können Theorien falsifizieren und daher, wenn die versuchte Falsifikation ausbleibt, bestätigen. Sie sind potenzielle Falsifikatoren von Theorien.

John Rawls, der einflussreichste Moralphilosoph der letzten Jahrzehnte, hat dieses Verständnis auf die Formel gebracht: „Es gibt eine eingrenzbare Klasse von Tatsachen, an denen wir vermutete Prinzipien testen können, nämlich unsere in ein Überlegungsgleichgewicht abgewogenen Urteile.“ So nennt er moralische Intuitionen. Er nennt sie sogar Tatsachen, um ihre Rolle der potenziellen Falsifikation zu kennzeichnen.

Das neue Selbstvertrauen der Philosophen trifft sich mit Erwartungen, die die Öffentlichkeit der Philosophie entgegenbringt. Gentechnik, Atomenergie und -bomben, Terrorismus gehören zu den Entwicklungen, auf die nicht mit überlegten Entscheidungen zu reagieren lebensgefährlich ist. Doch für die Entscheidungen scheinen allgemein verbindliche Maßstäbe zu fehlen. Philosophen glauben, die Maßstäbe liefern zu können. Maßen sie sich nicht zu viel an?

Nein, zu wenig. Ihre Gerechtigkeitstheorien versagen, weil sie sich auf Normenbegründung beschränken. Um Normen anzuwenden, brauchen sie eine kritisierbare Geschichtsdeutung. Sie kommen ohne sie nicht aus, daher folgen sie ihr insgeheim. Aber sie schrecken davor zurück, die Notwendigkeit einer rationalen Geschichtstheorie anzuerkennen.

Rawls gab den liberalen Ideen in seinen Gerechtigkeitsprinzipien eine viel diskutierte neue Begründung. Doch beim Versuch, sie zur Lösung aktueller Probleme zu gebrauchen, erwiesen sie sich als widerspenstig. Nehmen wir sein Differenzprinzip. Es erlaubt Einkommensunterschiede nur so weit, wie sie den Armen zugute kommen. Rawls verstand es als eine Regel, die unparteiliche Partner in einer autonomen Gesellschaft für ihre Kooperation vereinbaren. Er ließ es nur für nationale Gesellschaften gelten. Denn deren Autonomie hielt er auch heute für gegeben und daher die Armut der Dritten Welt für hausgemacht. Anders seine wichtigsten Schüler. Sie sehen die nationale Autonomie von der Globalisierung aufgehoben und fordern die Anwendung des Differenzprinzips auf globaler Ebene.

Wie können Rawls und seine Schüler ein Prinzip so gegensätzlich verstehen? Ist es unklar formuliert? Nein. Prinzipien sind notwendig abstrakt und lassen immer Spielraum in der Anwendung. Der Grund des Gegensatzes ist eine gegensätzliche Deutung der historischen Umstände, auf die das Prinzip anzuwenden ist. Rawls nimmt an, dass nationale Gesellschaften autonom sind, sein sollen und bleiben können; seine Kritiker verneinen zumindest die erste und dritte Annahme. Sie könnten sich über die historischen Fakten einigen, aber nicht über deren Sinn. Ihre unausgesprochenen Sinnannahmen enthalten gegensätzliche Geschichtsphilosophien.

Ein anderes Beispiel liefert die Anwendung des Prinzips der individuellen Freiheit. Auf einer Konferenz in Kalifornien, zu der Michail Gorbatschow als Chef einer die Zukunft erforschenden Stiftung lud, verkündeten die versammelten 500 Spitzen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft einhellig: In der Gesellschaft der nahen Zukunft arbeitet nur ein Fünftel, der Rest wird, wie Ex-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski sich ausdrückte, mit Tittytainment bei Laune gehalten.

Wie kann ein Gipfel der Exzellenz, ein „global brain-trust“, wie Gorbatschow seine Gäste nannte, das Prinzip der individuellen Freiheit von einer Fünftel-Gesellschaft verwirklicht sehen? Er unterstellt in seiner Anwendung des Prinzips Sachzwänge. Er hält bestimmte Entwicklungen für unvermeidlich. Er folgt einer Geschichtsphilosophie. Aber diese bleibt unausgesprochen und entzieht sich der Kritik.

Gerechtigkeitsgrundsätze haben radikal verschiedenen Inhalt, je nachdem, wie man die soziale Wirklichkeit einschätzt. Das liegt nicht an den Grundsätzen, sondern an der sozialen Wirklichkeit. Soweit sie von Grundsätzen bestimmt sein soll, ist sie noch nicht, sondern wird erst, und was sie wird, wird von unseren Erwartungen an sie mitbestimmt.

Gerechtigkeitsnormen, auch die von Rawls, fordern, dass Gesellschaften den Gebrauch unserer Vernunft fördern. Sie machen jedoch nicht klar, welchen unter den vielen möglichen Wegen, unseren Vernunftgebrauch zu fördern, wir wählen sollen. Diese Entscheidung verlangt vielmehr eine Vorstellung vom einzuschlagenden historischen Weg. Sie verlangt eine, wie Kant es nannte, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“.

Was für eine Geschichtsphilosophie brauchen wir, um ein Problem wie das der Arbeitslosigkeit zu meistern? Keine von der Art, wie sie Hegelianer offen und von Sachzwängen Redende heimlich verfechten. Ihre Metaphysik sagt uns voraus, wo die Reise langgeht. Wir brauchen Aussagen, wie eine Reise aussehen könnte, eine von vielen möglichen. Eine philosophische Geschichtstheorie muss die von Politikern stillschweigend vorausgesetzten Geschichtsmetaphysiken und die Konsequenzen der als selbstverständlich hingenommenen Entwicklungen aufdecken und Alternativen entwerfen. Die früher offene und die heute heimliche Geschichtsphilosophie sind einspurig und fortschrittsgläubig. Wir brauchen eine, die viele Szenarien entwirft, bevor sie abwägt. Ihre erste Tugend ist Fantasie, aber eine, die nicht nur Träume, sondern auch Albträume vorstellt.

Hannah Arendt liefert ein Beispiel. Von ihr stammt das Wort von der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“

Verhängnisvoll ist das Ausgehen der Arbeit für eine Arbeitsgesellschaft, weil ihre Fantasie für die Chancen verkümmert, die die technischen und sozialen Revolutionen bieten. Werden mit der Arbeit auch die Menschen überflüssig, die sie früher gemacht haben? Fällt den Experten nicht mehr ein, als sie durch Tittytainment bei Laune zu halten? Arendt schlug Alarm, und bis heute ist ihr Kassandraruf nicht überflüssig geworden. Sie sagte: „Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte ‚überflüssig‘ zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man ‚Probleme‘ mit einem Vernichtungspotenzial lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen.“

Ein Hindernis auf dem Weg zu rationalen Geschichtsdeutungen stellt die analytische Philosophie dar. Weil Rawls seine Theorie nicht mit einer Geschichtsphilosophie verband, konnten die Analytiker ihn als einen ihresgleichen anerkennen, obgleich seine Theorie eine heilige Kuh der Analytiker schlachtete: den Ausschluss normativer Untersuchungen aus der Philosophie. Ein Grund der analytischen Geschichtsmetaphysikfeindschaft ist, dass Hegel und Marx, die Prototypen der Geschichtsdeutung, deterministische Geschichtstheorien vertraten.

Die Analytiker haben völlig recht, solche Theorien zu verurteilen. Politiker können historische Voraussagen zum Grund nehmen, die Voraussage zu falsifizieren. Jede angebliche historische Notwendigkeit wird durch ihre bloße Verkündung zu einer Möglichkeit degradiert.

Karl Popper, der den Analytikern nicht fern stand, hat nicht nur die Annahme historischer Notwendigkeiten überzeugend kritisiert; er hat auch in seiner Kritik am Faschismus, seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, selbst eine Geschichtsmetaphysik geliefert. Er sah die Geschichte als mühsamen Weg von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft. Er erkannte, dass Philosophen ohne eine Geschichtsdeutung nicht wirksam sein können. Dieser Einsicht sind Rawls und die Analytiker nicht gefolgt. Warum?

Ihre Bedenken haben noch immer einen rationalen Kern. Jede Geschichtsdeutung kann missbraucht werden. Ironischerweise macht das gerade Kant in seinem Plädoyer für eine Geschichtsmetaphysik klar. Wir brauchen sie, sagt Kant, weil die ungedeutete Geschichte unser Handeln lähmt. Die Geschichte bietet einen Anblick, der „uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen“.

Eine politische Philosophie, die sich auf Prinzipienbegründung beschränkt, kann nur Grundsätze angeben, die im Himmel gelten. Um sie vom Himmel auf die Erde zu bringen, muss man, so Kant, „etwas weniges“ in der Erfahrung finden, woran man zur Durchsetzung der Grundsätze anknüpfen kann. Solche Orte findet man jedoch nur, wenn man eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte hat; einen, wie Kant sagt, „Chiliasmus“, auf Deutsch: die Erwartung eines tausendjährigen Reichs.

Hier werden Notwendigkeit und Gefährlichkeit der Geschichtsmetaphysik zugleich deutlich. Ohne eine Theorie, die den Anblick der Geschichte erträglich macht, können wir nicht mit Überlegung politisch handeln; ex- oder implizit hat jeder Politiker seine Geschichtsidee. Doch eine Idee, die die Schrecken der Geschichte erträglich macht, kann auch den Anblick kriminellen politischen Handelns erträglich machen. Wir haben erfahren, dass Geschichtsdeutungen nicht nur Passivität verhindern: Sie verringern auch Hemmungen.

Haben die Analytiker also recht? Vielleicht – wenn wir noch im Stand der Unbeflecktheit von aller Geschichtsmetaphysik wären. Aber seit langem sprießen rund um die Philosophie höchst wirksame Geschichtsspekulationen. Jeder heute hört von ihnen: Die Geschichte ist ein Kampf der Kulturen oder ein Kampf der alliierten Willigen gegen die Achse des Bösen, die Geschichte von Klassenkämpfen oder, um auch eine liberale zu nennen, der Weg von einer Gesellschaft der Ungleichheit in eine der Chancengleichheit. Dass die Politiker die Geschichte deuten, ist unvermeidlich; dass sie sie irrational deuten, das zu verhindern fordert von den analytischen Philosophen ihr eignes Vernunftideal.

Es ist wahr: Um diesem Ideal nachzukommen, müssen sie in Politik und Geschichte eine Fülle empirischer Daten berücksichtigen; die Kenntnis der relevanten empirischen Daten ist unzuverlässig in einer Welt der Medienkonzentration, die ein Gegenstand auch philosophischer Kritik sein muss, und der Philosoph kann sein Urteil über den Sinn der Geschichte den Mächtigen feilbieten, wie es Heidegger tat, den Hitlers hübsche Hände entzückten. Je mehr sich die Philosophen in die Geschäfte der Welt einmischen, desto leichter können sie über sich sagen müssen, was der schwedische Publizist Jan Myrdal so formuliert hat: „Wir sind nicht die Träger des Bewusstseins. Wir sind die Huren der Vernunft.“

Die Konsequenz darf dennoch nicht sein, der Philosophie das Ideal der Reinheit von Empirie und Politik vorzuhalten. Denn dann würde sie ihr Vernunftideal verraten, das auf Gründe gestützte Entscheidungen auch dort verlangt, wo sie am wichtigsten sind. Hinter Reinheitsidealen verbirgt sich meist nur Mangel an Mut.

Ulrich Steinvorth

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