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Meinung: Zeit für die großen Fahnen

Nie wird Chinas Rückständigkeit so deutlich wie beim jährlichen Volkskongress

Jedes Jahr im März, wenn Pekings Polizisten ihre Uniformen herausputzen, auf dem Dach der Großen Halle des Volkes die Fahnen wehen und die Zensur den Internetzugang der Chinesen fast lahm gelegt hat, ist es Zeit für den Volkskongress. Knapp 3000 Delegierte werden in den kommenden zehn Tagen über die Politik der Volksrepublik entscheiden. So lesen es zumindest die 1,3 Milliarden Chinesen in den Staatsmedien. Angeblich werden bei diesem Plenum der Staatshaushalt verabschiedet, die Militärausgaben beschlossen und die Regierungspolitik festgelegt. In Wirklichkeit ist der Volkskongress jedoch ein Marionettentheater, bei dem die KP-Mächtigen die Fäden ziehen. Nie werden die Verkrustungen des Ein-Parteien-Staates so offenkundig wie während der jährlichen Plenartagung. Wie zu Maos Zeiten sind alle Entscheidungen im Vorfeld festgelegt. Die aus dem ganzen Land handverlesenen Delegierten dürfen nur zustimmen. Noch nie hat der Volkskongress einen Gesetzentwurf abgelehnt. Chinas Führer fühlen sich offenbar so unsicher, dass sie nicht einmal Debatten zulassen. Offizielle Diskussionsrunden gleichen Jubelveranstaltungen aus der Kulturrevolution.

Trotz der wirtschaftlichen Erfolge hat es Chinas KP nicht geschafft, das politische System zu reformieren. Der Volkskongress ist bis heute nur die Inszenierung eines Parlaments. Die Delegierten treten in Trachten auf, weil sie angeblich die nationalen Minderheiten repräsentieren. Die Unterdrückung der Tibeter oder der muslimischen Uiguren wird mit keinem Wort erwähnt. Im Plenarsaal geben die Delegierten modern per Knopfdruck ihre Stimme ab. Inhaltlich haben sie jedoch meist keine Ahnung, worüber sie abstimmen. Die Gesetzentwürfe und Vorlagen werden oft erst unmittelbar vor der Abstimmung ausgeteilt.

Im Ausland wird die politische Starre Chinas gerne übersehen. Man lässt sich von wachsenden Wirtschaftszahlen blenden und von den Spiegelfassaden der Schanghaier Hochhäuser. Dabei steht Chinas Wachstum auf tönernen Füßen. Mit dem Wirtschaftsaufschwung werden viele Chinesen wohlhabender, die Gesellschaft freier und vielfältiger. Einen politischen Mechanismus zum Interessenausgleich gibt es jedoch nicht. Sollte das Land eines Tages in eine Rezession kommeen, sind soziale Spannungen programmiert.

Auch in diesem Jahr ist der Volkskongress nur Plattform der Staatspropaganda. Im Mittelpunkt steht ein Gesetz, mit dem Peking die Unabhängigkeitskräfte auf Taiwan in Schach halten will. Sollte sich der Inselstaat eines Tages formal von China lösen, hätte Peking eine selbst geschaffene Legitimation für einen Militärschlag in der Hand. Dazu passt die Ankündigung der KP-Führung, die Militärausgaben um zwölf Prozent zu erhöhen.

Beim chinesischen Volk dürfte das Säbelrasseln gut ankommen. Es ist jedoch genau das falsche Signal. Vor einer Woche hatte Taiwans Präsident Chen Shui-bian Entgegenkommen signalisiert und eine formale Unabhängigkeitserklärung in seiner Amtszeit ausgeschlossen. Während des Frühlingsfestes vor einem Monat erlaubte Taipeh zum ersten Mal seit fünf Jahrzehnten Direktflüge zwischen Taiwan und dem Festland. Diese vorsichtige Entspannung könnte mit dem Anti-Abspaltungsgesetz und den Drohgebärden aus Peking schnell wieder vorbei sein.

Chinas Taiwanpolitik steht auf dem Kongress jedoch nicht zur Debatte. Ebenso wenig wie die wachsenden sozialen Probleme, die Verarmung der Landbevölkerung oder die Demokratieforderungen der Menschen in Hongkong. Der früherer Ministerpräsident Zhu Rongji hatte vor einigen Jahren eingeführt, in den Rechenschaftsberichten vor dem Volkskongress auch die Probleme des Landes zu kritisieren. Damals war das ein Schritt zu mehr politischer Offenheit. Heute reicht ein bisschen Selbstkritik der KP-Führer nicht mehr aus.

Harald Maass

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