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Meinung: Zeit für Pygmäen

GASTKOMMENTAR Von Roger Boyes Während meiner langen Jahre in Bonn traf ich eine geheime Absprache mit meinem Erzrivalen, dem glatzköpfigen, cholerischen „Daily Telegraph“-Korrespondenten. Morgens um zehn verabredeten wir, welche Themen wir unseren Redaktionen anbieten würden, um uns vor den irrationalen Kräften des Zeitungswettbewerbs zu schützen.

GASTKOMMENTAR

Von Roger Boyes

Während meiner langen Jahre in Bonn traf ich eine geheime Absprache mit meinem Erzrivalen, dem glatzköpfigen, cholerischen „Daily Telegraph“-Korrespondenten. Morgens um zehn verabredeten wir, welche Themen wir unseren Redaktionen anbieten würden, um uns vor den irrationalen Kräften des Zeitungswettbewerbs zu schützen. Jeden Tag mogelte einer von uns (oder auch wir beide) – und fand eine Story, die wir in unserem angeblich ganz offenen Ratschluss nicht erwähnt hatten. Das verlangte schon die Berufsehre, auch wenn es zusätzliche Arbeit bedeutete. So setzten wir zwei die britische Agenda für Deutschland und reduzierten den Einfluss der anderen Blätter.

Nach einer gewissen Zeit fiel uns auf, dass unsere leicht korrupte Absprache die Mechanismen des Bonner Politikbetriebs ziemlich gut nachahmte. Tag für Tag trafen die Christdemokraten Absprachen mit den Sozialdemokraten, um zu einer erträglichen Arbeitsatmosphäre im Bundestag, den Untersuchungsausschüssen, im Bundesrat zu gelangen – und mogelten dann. Das System leidet nicht unter dem Wahlkampf. Stoiber reist eine Woche vor Schröder zu Prodi. Blair besucht Schröder am Sonntag, Stoiber trifft Blair am Donnerstag.

Zufall? Natürlich nicht. Es gibt eine unausgesprochene Übereinkunft, dass Europa eine untergeordnete Rolle im Wahlkampf spielen soll, und eine ausgesprochene Verabredung, wie das zu geschehen habe. Es gibt ein ganzes Netz formaler und informeller Kommunikation zwischen der SPD-Kampa und dem Stoiber-Team. Beide haben ihre Spione im anderen Lager; die sorgen auch für gezielte Desinformation. Berlin ist wieder die Hauptstadt der Agenten und des Doppelspiels.

Wie der Deal zwischen den britischen Korrespondenten dient das Spiel auch dem Zweck, die anderen aus dem Wettbewerb auszuschließen. Wie rasch waren sich die zwei zum Beispiel einig, Karlheinz Schreibers Befragung zu beenden. Er hatte eine Bombe angekündigt, konnte keine Belege liefern – binnen weniger Stunden waren sich alle Mainstream-Politiker einig: Der Mann ist ein Lügner. Warum war ihnen die Erkenntnis nicht ein Jahr früher gekommen? Weil Schreiber die Explosion schlecht getimt hat: Mitten im Wahlkampf haben die großen Parteien mehr Interesse an gegenseitiger Stabilität als an neuen Enthüllungen. Das Vokabular, mit dem Union und SPD Westerwelle beschreiben, ist nahezu identisch. Derzeit nennen sie ihn eine Lachnummer, in fünf Monaten einen seriösen Partner.

Die beiden Spin-Doctors Machnig und Spreng verbindet untereinander mehr als mit ihren jeweiligen Chefs. Ist das von Belang? Ich glaube schon. Es geht um die schleichende Erosion der Wahlfreiheit. Im Wahlkampf der Großen geht es nicht darum, die ernsten politischen Unterschiede hervorzuheben – davon gibt es nur noch sehr wenige –, sondern Blockade zu spielen mit dem Ziel, einen Vorsprung der anderen Seite zu verhindern. Als Michael Spreng noch die „Bild am Sonntag“ dirigierte, favorisierte er eine Große Koalition. Vielleicht steuert er den Wahlkampf in diese Richtung. Eine Große Koalition wäre die ultimative Verhinderung einer Wahl- und Richtungsentscheidung.

Fortschritt gibt es allein, wenn die kleinen Parteien an Gewicht gewinnen, sie sind die einzigen dynamischen Elemente in diesem System. Ich bin kein Fan von ihnen – Westerwelle hat offenbar Hormonprobleme, die PDS wirkt so attraktiv wie ein sowjetisches Atomraketen-Silo (und ist nach ähnlichen Prinzipien konstruiert), die Grünen sind grau geworden. Dennoch ist es an der Zeit, sich um die Pygmäen zu scharen.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Zeitung „The Times“. Foto: privat

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