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Zeugnisse ohne Noten: Hinfallen und aufstehen

Immer und überall wird Rücksicht genommen, um ein Scheitern zu vermeiden. Lehrer, Eltern, Verwandte, Trainer oder sonstige Betreuer sind bereit zuzuhören, oft regelrecht froh, wenn sie mildernde Umstände erkennen. Aber andersherum wäre es richtiger

Der Mann, der hinten im Auto Platz nimmt, ist möglicherweise eine dramatische Neuheit im Leben des jungen Menschen, der vorne am Steuer sitzt. Er kennt den Mann nicht, hat ihn nie zuvor gesehen. Er wird keine Beziehung zu ihm aufbauen, es bleibt unerheblich, was er über den Mann denkt, und auch, was der Mann über ihn denkt.

Der Mann ist nur eingestiegen, um dem jungen Menschen eine knappe Dreiviertelstunde lang bei der Bewältigung einer Aufgabe zu beobachten. Er wird danach ein eindeutiges Urteil sprechen, das sich nur auf die in der Dreiviertelstunde gezeigte Leistung bezieht. Es wird keine vorangegangenen Lernerfolge berücksichtigen, keine Anstrengungen, keine familiäre Herkunft, keine sonstigen Umstände.

Es ist Fahrprüfung. Der junge Mensch am Steuer will den Führerschein machen, der Mann hinten ist der Prüfer. Und mancher Prüfer stellt fest: Viele Prüflinge kommen mit der Situation nicht mehr klar – mit dem Endgültigen am Gescheitertsein, wenn sie nach der Hälfte der Prüfungsfahrt über die Linie am Stoppschild rollen und es von hinten heißt: „Dann fahren Sie mal ran.“ Dann sind sie durchgefallen, kein Auge wird zugedrückt, keine zweite Chance angeboten, nicht diskutiert. Manche der jungen Menschen werden dann sauer, wütend, fangen an zu weinen und herumzuschreien.

Sie denken, das Urteil sei ungerecht. Und womöglich vergessen sie, dass das Urteil nur eine Bewertung ist, eine Reaktion, auf das, was zuvor gezeigt wurde. Oder haben sie das gar nicht gelernt? Weil Urteile ohne Bereitschaft, sie sofort zu revidieren, indem zweite, dritte, zehnte Chancen angeboten werden, kaum noch vorkommen in den jungen Leben von heute? Das Herumschreien nach der nicht bestandenen Fahrprüfung wirkt wie die Konsequenz einer Entwicklung, die von Ideen wie dem 2013 geforderten Nichtmehrsitzenbleiben in der Schule befördert werden, oder dem vorige Woche wieder aufgekommenen Vorschlag aus Schleswig-Holstein, in der Schule möglichst erst ab Klasse 8 Zensuren zu verteilen. Davor sollten Berichtszeugnisse die Noten ersetzen.

Kinder sollen nicht scheitern, das ist der Gedanke dahinter. Das ist ein schöner Gedanke. Aber hilft er am Ende überhaupt weiter? Oder betrügt man die Zubeurteilenden, die keine klaren Urteile mehr erhalten, nicht vielmehr um Wahrheiten?

Immer und überall wird Rücksicht genommen, um ein Scheitern zu vermeiden. Lehrer, Eltern, Verwandte, Trainer oder sonstige Betreuer sind bereit zuzuhören, oft regelrecht froh, wenn sie mildernde Umstände erkennen. Für jede Fehlleistung finden sich dann blumige Formulierungen, die nicht wehtun, und das ist ja nicht nur für die Zubeurteilenden angenehm, sondern auch für die Urteilenden.

Aber andersherum wäre es richtiger. Dass junge Menschen zu ihrer eigenen Orientierung lernen, mit einem klaren Urteil umzugehen, das bei schlechten Leistungen dann auch schlecht ist. Kinder sollen nicht scheitern, aber das lässt sich doch nur erreichen, wenn sie diese Art von Kritik richtig – und zwar nicht als persönliche Abwertung – verstehen lernen und Lehren ziehen können.

Irgendwann im Leben kommt sowieso ein Punkt, an dem man ein Nein akzeptieren muss. Irgendwann scheitert jeder einmal, und dieses Scheitern muss man lernen. Sagt man nicht auch: Scheitern als Chance? Wieso soll man denn nicht mal eine 4 im Zeugnis stehen haben, mal sitzen bleiben, durchfallen, hinfallen, wenn man nur dann lernen kann, dass und wie man wieder aufsteht?

Aus dem Scheitern lernen, heißt unterscheiden lernen zwischen sich selbst als Person und der für nicht gut befundenen Handlung, die man ausgeführt hat. Bei der Fahrprüfung, der Schulaufgabe zu scheitern, heißt nicht, ein schlechter Mensch zu sein. Es heißt lediglich, eine schlechte Leistung abgeliefert zu haben.

Entwicklungspsychologen weisen daraufhin, dass Kleinkinder diesen Unterschied zwischen sich selbst und ihren Handlungen nicht machen können. Es ist deshalb Unsinn, ein Baby anzuschnauzen. Der Hirnforscher Gerald Hüther sagt, dass ein Kleinkind, das sich seiner Mutter noch extrem verbunden fühlt, eben diese Verbundenheit infrage stellt, wenn mit ihm geschimpft wird, und die Kleinen „in den ersten ein, zwei Jahren jedes Verbot als Ablehnung ihrer Person“ interpretieren. In den ersten zwei Jahren!

Danach ist klug beraten, wer den Unterschied vermittelt. Denn erst, wer am Scheitern scheitert, hat es wirklich schwer im Leben.

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