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Meinung: Zu viel Tempo bremst

Die EU sollte sich Zeit lassen mit der Verfassung – und erst recht mit Kerneuropa

Beim Weihnachtsempfang des britischen Außenministers war die Stimmung gut. Im Hof vertrieb wie gewöhnlich ein Falke die Tauben, drinnen, in der Locarno-Suite, gab sich der Staatssekretär für Europafragen, Denis MacShane, vor dem Skiurlaub gelassen. „Jetzt sollten alle erst einmal nachdenken.“

In Paris scheint man schon genug nachgedacht zu haben. Die Lehre der Franzosen aus dem gescheiterten Brüsseler Verfassungsgipfel lautet nicht Gelassenheit, sondern Geschwindigkeit: die Integration vorantreiben mit denen, die dazu willens sind. Kerneuropa, europäische Avantgarde, wie auch immer man es nennen möchte.

Es ist das alte Dilemma der Europäischen Gemeinschaft: Seit Jahren hinkt sie hinter den eigenen Zeitplänen her, und muss doch viele faule Kompromisse schließen, um überhaupt so weit zu kommen. Beim Euro machen nicht alle mit, ebenso beim Schengen-Vertrag über den Wegfall der Binnengrenzen; und bei den schlechten Beschlüssen von Nizza 2000 hätten besser nicht alle mitgemacht. Beim Brüsseler Gipfel zur Verfassung wurde die vorwärts drängende Union nun von ihrer unaufgearbeiteten Vergangenheit eingeholt. Schon jetzt, in einer voll globalisierten Welt, wirkt die Detailversessenheit des 250 Seiten langen Entwurfs unzeitgemäß. Als ob man sich endlich auf eine Sitzordnung für das Galadinner auf der „Titanic“ einigen konnte. Die Welt hat nicht stillhalten wollen, während die Europäische Gemeinschaft so lange mit sich rang, das merkt man nun.

Gleichwohl wäre es ein Fehler, dem französischen Drängen nach mehr Geschwindigkeit nachzugeben. Während des langen Ringens haben sich die historischen Grundziele der EU – die politische Einbindung Deutschlands und die Abschaffung der Zölle – erledigt. Gleichzeitig hat ihre Wirtschaft an Kraft verloren, das Verhältnis zu den USA ist ungeklärter denn je. Ob schnell oder langsam, ob als Kern oder Gesamtfrucht, in Wahrheit stellt sich heute die Grundfrage: Was soll diese Europäische Union überhaupt leisten?

Der Gipfel hat auch diesen Eindruck hinterlassen: dass Europa mit 25 Mitgliedsländern bereits überintegriert ist. Die deutsch-französische Nichtbeachtung des Stabilitätspakts, die fundamental zögerliche Haltung der Briten, die Kompromisslosigkeit der Polen, das Verschwinden solcher Euroenthusiasten wie Kohl oder Mitterrand, die ungeklärte Position zur Türkei, die Forderung der Geberländer vor wenigen Tagen nach einer Obergrenze für den EU-Haushalt – Einzelheiten, die in der Summe aber Zweifel an der Zukunft des Gesamtprojekts aufkommen lassen.

Wohin also will Außenminister Joschka Fischer, wenn er von einem Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ redet? Jacques Chiracs abfällige Bemerkungen vor dem Irakkrieg über die Beitrittsländer – die Osteuropäer sollten schweigen, bis sie gefragt werden – lassen ahnen, was für die Franzosen Kerneuropa bedeuten mag: der Rückbau der Osterweiterung und eine Konkurrenz zu Amerika. Beides liegt nicht im Interesse Deutschlands. Und vermutlich wäre die Union in ihrer jetzigen Form damit dem Tode geweiht.

Brüssel hat gezeigt: Das Tempo in Europa kann auch von den Schnellsten gebremst werden. Der nächste Anlauf für die Verfassung sollte deshalb nicht schon im kommenden Jahr genommen werden. Tony Blair wird im Wahlkampf stecken, Polen weiter auf Nizza bestehen und Deutschland noch immer nicht wissen, wie eng es sich an Frankreich binden will. Europa sollte sich ein, zwei Jahre Zeit nehmen – auch wenn es die eigentlich nicht hat. Und hoffen, dass die Völker dann wissen, wohin dieses Projekt führen soll.

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