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Meinung: Zum Fisch Signale aus dem All

Von Roger Boyes, The Times

Vertraulichen Statistiken zufolge – die so geheim sind, dass diese Glosse möglicherweise nach dem Lesen lieber zerstört werden sollte – leben östlich der Frankfurter Allee nur drei Berliner, die diese Zeitung lesen. Meinen Kollegen beim Tagesspiegel braucht das nicht peinlich zu sein. Man könnte diese Leser einfach gegen die drei Leser der „Berliner Zeitung“ in Charlottenburg austauschen, zum Beispiel an der Glienicker Brücke. Dass es genau drei Leser sind, weiß ich deshalb, weil sie mir geschrieben haben. Ihre Briefe erreichten mich nacheinander im ZehnTage-Rhythmus, also außerhalb der Reihenfolge dieser Glosse, und machten auf mich den Eindruck einer koordinierten Aktion. Kein Wunder – im Osten hat schließlich jeder die Kunst der Verschwörung mit der Muttermilch aufgesogen.

In allen drei Briefen wird mir vorgeworfen, dass ich den Osten vernachlässigte: die Menschen, deren seltsame Angewohnheiten und, natürlich, deren viele, viele Probleme. Da wir uns mitten im Zeitalter des interaktiven Journalismus befinden, beschloss ich, mich mit mindestens einem der Leser zu treffen. Ich tat es mit einer gewissen Vorahnung, hatte mir aber ausgerechnet, dass ich ihn schlimmstenfalls umbringen, ihn vielleicht heimlich im Grunewald erwürgen könnte. Der Leser, den ich hier Kurt Arnold nenne, weil das seinem wahren Namen nahe kommt, spürte wohl die Gefahr, und so zogen sich die Verhandlungen über unser Rendezvous fast zwei Wochen hin. Wir einigten uns auf Rogacki in der Wilmersdorfer Straße als Treffpunkt. Eine gute Wahl, dachte ich. Erst spät war ich auf das Delikatessengeschäft aufmerksam geworden, vor etwa einem Jahr, und war seinem 70er-Jahre- West-Berlin-Charme sofort verfallen. Sie benutzen dort immer noch den alten Altonaer Ofen aus dem Jahr 1932, um den Fisch zu räuchern. Einige Stammkunden erinnern sich noch an Paul und Lucia Rogacki. Am Stehbuffet kann man einen schnellen, leichten Fischlunch einnehmen – und Geschäfte erledigen. Kurt Arnold, hatte ich mir vorgenommen, sollte meine West-Berliner Lunch-Kumpels treffen. So könnte er wenigstens etwas über die Schwächen des Kapitalismus lernen: Einer arbeitete für die Bankgesellschaft; ein anderer wurde vom Zirkus entlassen, nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte; ein Arzt ist dabei, dessen Praxis von der Polizei durchsucht wurde wegen des Verdachts auf Phantompatienten; und einer hatte für Georg Gafron gearbeitet. Ihr politischer Diskurs untereinander hätte selbst Dschingis Khan beschämt. In meiner Gegenwart rücken sie ein wenig mehr in die politische Mitte, bleiben aber dabei, dass Mussolini ein guter, nur missverstandener Mann war.

Kurt Arnold (70? 73? Aber drahtig und fit) war noch nie so weit nach Westen gekommen, abgesehen vom Besuch des Olympiastadions und, ach ja, Weihnachten bei seiner Nichte in Bielefeld. Es sollte ein Kulturschock werden.

Meine Lunch-Kumpels nickten freundlich, als ich KA an ihren Tisch brachte. Der Gafron-Mann schenkte gerade Sekt aus, der Zirkus-Mensch beschwerte sich über Hartz IV (nicht hart genug) und meinte, Bush habe Recht: Nur ein Krieg sei ein Mittel gegen die globale Arbeitslosigkeit. Eine halbe Stunde lang ignorierten sie KA, der aufmerksam zuhörte, als müsse er Signale aus dem All dekodieren. „Wo leben Sie?“, fragte der arbeitslose Banker. „Kaulsdorf“, sagte KA und fummelte sich eine Gräte aus dem Mund, „Nord“. „Arbeit?“, kam von dem Arzt. „Nicht in den letzten zehn Jahren.“ „Ich auch nicht.“ „Ich auch nicht.“ „In Kaulsdorf war ich noch nie“, sagte der Zirkusmann nach einer Weile. „Warum auch.“ Dann klingelte mein Telefon, die „Times“ wollte einen Artikel über Kohls Stasi- Akte. Als ich zahlte, flüsterte der Arzt: „Ganz in Ordnung, ihr Ossi, Herr Boyes.“

Draußen entschuldigte ich mich bei KA. Das Ost-West-Experiment war fehlgeschlagen. „Die sind wie Figuren aus einem George-Grosz- Bild“, sagte er, sein Gesicht ganz rosig vor Freude. Wenigstens hatte er seinen Freunden nun etwas zu erzählen. Ein weiterer zufriedener Tagesspiegel-Leser.

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