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Meinung: Zum Krieg bereit

Von Clemens Wergin Ein Déjà-vu-Erlebnis: Letzte Woche haben Extremisten einen Bus und ein Wohnviertel der indischen Armee im indischen Teil Kaschmirs angegriffen. 34 Menschen, meist Frauen und Kinder, starben.

Von Clemens Wergin

Ein Déjà-vu-Erlebnis: Letzte Woche haben Extremisten einen Bus und ein Wohnviertel der indischen Armee im indischen Teil Kaschmirs angegriffen. 34 Menschen, meist Frauen und Kinder, starben. Wie nach dem Angriff von Terroristen auf das indische Parlament im Dezember heizt sich auch jetzt der Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan gefährlich auf. Eine Million Soldaten stehen sich in Kaschmir gegenüber. Die Lunte brennt. Wieder einmal.

Die Choreographie der Eskalation ist bekannt: Mobilmachung, Truppenmassierung; jetzt hat Indien weitere fünf raketenbestückte Kriegsschiffe ins arabische Meer entsandt. Selbst wenn solche Drohgebärden zum Routine-Repertoire des Konflikts gehören, ist die Gefahr nicht weniger real. Mit jedem Terrorangriff und der darauf folgenden Erregungs-Rhetorik auf indischer Seite wird ein Krieg wahrscheinlicher. Könnte sich Indiens Premier Vajpayee doch irgendwann gedrängt sehen, seinen starken Worten ebensolche Taten folgen zu lassen.

Das Grundproblem besteht in der Talibanisierung des Kaschmir-Konflikts. Pakistan hatte den Aufstand der mehrheitlich moslemischen Kaschmiris im von Indien besetzten Teil Ende der 80er Jahre zunächst mit Waffen und Geld unterstützt. Dann wandte der pakistanische Geheimdienst ISI jedoch dieselbe Strategie an wie in Afghanistan und islamisierte den Befreiungskampf. Aus dem Streben nach Unabhängigkeit wurde ein Dschihad. Einer der wenigen kaschmirischen Führer, der sich der Talibanisierung des Konfliktes öffentlich widersetzte, war Abdul Ghani Lone. Er wurde am Dienstag erschossen. Die Inder wollten Lone dazu bewegen, an den Regionalwahlen im indischen Teil Kaschmirs teilzunehmen. Ein weiterer Gemäßigter, der den Extremisten zum Opfer fiel.

Pakistans Militärmachthaber Musharraf sitzt ebenfalls in der Klemme: Zwar hat er im Dezember eine Reihe von Extremisten im pakistanischen Teil Kaschmirs verhaften lassen. Doch angesichts der Weigerung Indiens, die von der UN geforderte Volksabstimmung über die Zukunft der geteilten Provinz zuzulassen, fällt es Musharraf schwer, gegen Kämpfer in der Region vorzugehen, deren Ziele – wenn auch nicht ihre Mittel – von der pakistanischen Bevölkerung geteilt werden.

Kriegsbereit stehen die zwei jüngsten Atommächte sich gegenüber. Niemand weiß, ob sie mit der Verantwortung umgehen können. Um sich vor seinen fundamentalistischen Hindu-Wählern zu rechtfertigen, könnte Vajpayee sich genötigt sehen, einen lokal begrenzten Krieg um den pakistanischen Teil Kaschmirs zu führen. Jetzt kommt es darauf an, ihn davon zu überzeugen, dass ein solcher Krieg kein begrenzter bleiben würde. Dafür ist der Gegner zu schwach.

Das klingt paradox, birgt aber die Gefahr eines Atomkrieges: Mit konventionellen Waffen kann Pakistan nicht gegen die indische Übermacht bestehen. Eine schwere Niederlage würde sich ein General wie Musharraf kaum gefallen lassen – und möglicherweise mit der schrecklichsten aller Waffen antworten. Russisches Roulette mit Atomwaffen.

Je näher die Wahlen im indischen Teil Kaschmirs rücken, und je mehr der aus Afghanistan versprengten Taliban sich auf pakistanischer Seite sammeln, desto explosiver wird die Situation. Musharraf muss deutlich gemacht werden, dass er mit dem nuklearen Feuer spielt, wenn er die Extremisten nicht in Schach hält. Andererseits ist es nötig, auch Indiens Regierung davon zu überzeugen, einer internationalen Beobachtertruppe zuzustimmen. Die Jahrzehnte der Unterdrückung in Kaschmir ebenso wie die Unruhen in Gujarat Anfang des Jahres, bei denen fast tausend Muslime starben, zeigen: Ohne eine weitgehende Autonomie für die muslimische Region wird eine politische Lösung des Kaschmir-Konfliktes nicht zu machen sein.

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