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Der russische Präsident Wladimir Putin.

© dpa

Zurückgeschrieben: Was haben Sie gegen Putin, Herr Martenstein?

Unser Leser sagt, dass der russische Präsident in der Ukraine für das Selbstbestimmungsrecht der Völker kämpft. Unser Kolumnist Harald Martenstein antwortet ihm und meint: Putin öffnet das Tor zu vielen neuen Kriegen.

Lesermeinung zum Artikel „Urlaubssperre für Putins Truppen“ vom 6. September

Hier der wunderbare freie Westen, dort der „vom Teufel besessene“ (Tagesspiegel) Putin. Was wirft man dem russischen Präsidenten eigentlich konkret vor? Wo bleibt der Respekt? Haben die Russen in der Ostukraine vielleicht auch das Recht, gefragt zu werden, ob sie in der Ukraine leben wollen oder nicht? Sind das nicht auch verzweifelte Menschen, die keinen anderen Weg sahen, als zu den Waffen zu greifen? Ich verurteile diesen Weg und die Gewalt als Mittel der Politik. Aber: Wo ist die Invasion, die vom Westen herbeigeredet wird?

Ich hoffe nur, dass Sie, Herr Martenstein, im Falle der zahlreichen Fälle der Verletzung des Völkerrechts durch die USA, die hunderttausende von Toten im Gefolge hatten, ebenso leidenschaftlich reagiert haben. Leider haben die Amerikaner ihre eigenen Prinzipien schon so oft mit Füßen getreten, dass man es kaum noch zählen kann.

Zurück zur Ukraine: Das Völkerrecht kennt außer der territorialen Integrität auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Kiewer Rus ist übrigens die Keimzelle des russischen Staates.

Sie, Herr Martenstein, sind nicht bereit, alte Feindbilder aufzugeben. Man muss mit allen Konfliktparteien und vor allem mit seinen Feinden reden. Der Osten scheint in Ihrem Weltbild per se böse zu sein, es lohnt sich also gar nicht, mit ihm zu reden. Herzlichen Glückwunsch – Sie haben Ihr altes, bewährtes und bequemes Feindbild wieder belebt.

Rudolf Gäbler, Berlin

Harald Martenstein schreibt:

Sie fragen, was man Putin konkret vorwirft. Nun, er hat das wichtigste Tabu gebrochen, das es in der europäischen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt. Er hat Grenzen gewaltsam verschoben, indem er die Krim annektierte. Dass dabei russische Truppen im Spiel waren, gibt er zu. Und er spricht offen darüber, dass damit noch nicht das Ende seiner territorialen Ambitionen erreicht ist.

Ich wundere mich darüber, dass man in Deutschland ernsthaft darüber diskutieren muss, ob ein Staat Gebiete von Nachbarstaaten militärisch erobern darf oder nicht. Ist Ihnen nicht klar, welches Höllentor der europäischen Geschichte Putin da wieder geöffnet hat? Grenzen sind häufig willkürlich gezogen, sie sind durch vergangene Kriege oder durch Zufall entstanden, über Grenzen kann man fast immer diskutieren. Besonders gilt dies für die Grenzen in Afrika, die oft historische Stammesgebiete durchschneiden, die Grenzen waren ein Diktat der Kolonialmächte. Als die Staaten Afrikas unabhängig wurden, vereinbarten sie trotzdem, diese Grenzen zu respektieren, bis auf wenige Ausnahmen haben sie sich bis heute daran gehalten. Warum? Weil die Alternative darin besteht, dass der gesamte Kontinent in blutigem Chaos versinkt.

Es ist natürlich eine ganz andere Sache, wenn Grenzen einvernehmlich und friedlich verschoben werden. Demokratien sind dazu in der Lage. Ein Beispiel für diesen zivilisierten, fairen Weg haben wir gerade erst erlebt, das knapp gescheiterte Referendum über die Unabhängigkeit von Schottland. Was die Menschen in der Ostukraine und auf der Krim wirklich wollen, wissen dagegen weder Sie noch ich, denn Russland lässt faire Abstimmungen nicht zu. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass in der Ostukraine die Separatisten keine Mehrheit hinter sich haben, zumindest nicht ohne Zwang und Gewalt. Nicht jeder, der russisch spricht, ist ein Russe, so, wie auch nicht jeder ein Engländer ist, der englisch spricht.

In Gestalt von Putin klopft der Imperialismus vergangener Jahrhunderte wieder an die Tür Europas. Und dagegen sollen wir nichts tun? Als Ermutigung für den nächsten Kraftprotz, der mit den Grenzen seines Landes nicht zufrieden ist? Ich finde es drollig, wenn Sie schreiben, dass man mit Putin reden müsse. Ja, gewiss, das muss man. Was meinen Sie denn, was die Regierungen Europas tun? Angela Merkel hat zeitweise fast täglich mit Wladimir Putin telefoniert, das Telefonprotokoll hat der Kreml veröffentlicht.

Sie sprechen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und beziehen das auf die Bewohner der Ostukraine, über deren Willen Sie offenbar über exklusive Informationen verfügen. Sind Sie bereit, dieses Recht auch der gesamten Ukraine einzuräumen? Dort will die Mehrheit in demokratischen Verhältnissen leben und hat diesen Wunsch in, verglichen mit Russland, relativ freien Wahlen zum Ausdruck gebracht. Das ist die eigentliche Wurzel des Konfliktes. Putin war mit den Grenzen der Ukraine durchaus zufrieden, solange dort eine Regierung im Amt war, die er unter Kontrolle hatte.

Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein.
Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein.

© Thilo Rückeis

Und was genau wollen Sie sagen, wenn Sie auf Völkerrechtsverletzungen der USA hinweisen? Sollen wir wegen des Irakkrieges und wegen Guantanamo jetzt Putin einen Eroberungskrieg in Europa erlauben? Diese Logik finde ich schräg. Deutschland hat in der Vergangenheit das Völkerrecht um einiges gründlicher gebrochen als die USA. Deshalb hat Frankreich nun das Recht, Freiburg im Breisgau zu annektieren - ist es das, was Sie sagen möchten?

Habe ich Feindbilder? Ja, das mag sein. Diktatoren und Unterdrückern kann ich generell nicht viel abgewinnen. Ihr Feindbild scheinen eher die USA zu sein. Ich habe oft kritische Texte über die US-Politik geschrieben, aber ein Feindbild sind die USA für mich nicht. In den USA konnten kritische Journalisten den kriminellen Präsidenten Nixon stürzen, in Russland werden Kritiker eingesperrt. Das halte ich für einen wichtigen Unterschied.

Der Autor Harald Martenstein ist Kolumnist des Tagesspiegels.

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