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MFK Fisher

© John Engstead

MFK Fisher: Kochen mit Stil

Die Kunst des Essens war das Lebensthema von MFK Fisher. Doch wenn sie über Schnepfen oder das Liebesleben der Auster schrieb, lieferte sie keine Rezepte, sondern große Literatur.

Stundenlang quälten sie sich über matschige Felder, zitterten in schlammigen Ruinen voller Fledermäuse, „wanderten, krabbelten und keuchten durch alle Ecken Frankreichs“. Das war der Preis, den sie zahlten, und sie zahlten ihn gern: zwei junge dünne Amerikaner zwischen lauter alten Franzosen, Offizieren a.D., Anwälten im Ruhestand. Denn zu den Ausflügen des Club Alpin gehörten stundenlange Gelage in den besten Lokalen, immer wieder neue aufregende Spezialitäten, gepökeltes Wildbret, in Weißwein marinierte Forellen, zu jedem Gang ein anderer, ein immer besserer Wein. Und kaum waren sie dann wieder ein paar Stunden gewandert, stießen sie auf eine kleine Patisserie, wo sie unbedingt die Plätzchen einer steinalten Bäckerin probieren mussten, „die mit Sauerrahm hergestellten fantaisies der zahnlosen Heldin des Dorfes, leicht, zart, in reiner Butter gebacken und von einer Farbe, die klarer als Gold war, von hellerer Tönung als Josephie Baker, aber ebenso vital“.

Keiner konnte über Essen schreiben wie sie, MFK Fisher, „the poet of the appetites“, wie John Updike sie nannte, „eine Art Katherine Hepburn der kulinarischen Künste und Literatur“, wie der „New Yorker“ sie beschrieb. Sie hat den Amerikanern vermittelt, dass Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme, hat sie mit Leichtigkeit und Eleganz zum Genuss verführt: „Look, if you have to eat to live, you might as well enjoy it.“

Dass sie vor 100 Jahren, am 3. Juli 1908, in Michigan geboren wurde, hielt sie für eine Gemeinheit des Schicksals. Sie fühlte sich nämlich als Kalifornierin durch und durch. Ihre Kindheit verbrachte sie im Süden des Bundesstaates, in einer kleinen Quäkerstadt, dort hatte ihr Vater eine Zeitung gekauft, im Alter lebte sie im Norden, zwischen den Weinbergen von Napa Valley. Dabei hatte sie bei der Geburt Glück. Ein Tag später, und sie hätte Independencia geheißen. Ein scheußlicher, aber durchaus passender Name für Mary Frances Kennedy, verheiratete Fisher. Unabhängig und eigenwillig und unberechenbar, so lebte sie ihr Leben. Und das fing schon beim Frühstück an: Entweder aß sie gar nichts zu einer Tasse Tee oder labte sich an kaltem Entenschenkel mit einem Glas Wermut dazu.

„With Bold Knife and Fork“ (Mit verwegenem Messer und Gabel), so nannte sie eins ihrer Bücher, das sie ihrer Großmutter widmete, der prägenden Gestalt ihrer education culinaire. Dabei war Großmutter Holbrook keine Bilderbuchoma, die Plätzchen backt und Marmelade einkocht und ihre Enkel mit deren Lieblingsspeisen verwöhnt, sondern eine magenkranke Protestantin, die den frugalen Speiseplan der Familie diktierte: zu Tode gekochte Gerichte ohne Würze und Geschmack. Aber wehe, Oma war aus dem Haus, etwa um bei Dr. Kellogg, dem Erfinder der Cornflakes, zu kuren – dann wurde richtig getafelt, erfreute sich die ganze Großfamilie an den verbotenen Speisen, holte der Vater, Prohibition hin oder her, den besten Rotwein hervor.

Diese Feste nährten in der Amerikanerin den Hunger nach mehr. Und der wurde vor allem in Frankreich gestillt und zugleich immer wieder von neuem angeregt. 1929, zog sie, 21 und frisch verheiratet, mit ihrem Mann nach Dijon, wo dieser seine Dissertation und Sonnette schreiben wollte. So fingen drei „Köstliche Jahre“ an, so der Titel ihrer Jahrzehnte später verfassten Erinnerungen, die Mitte Juli auch auf Deutsch erscheinen (Edition Ebersbach, Deutsch von Egbert Hörmann, 19,80 Euro). Sie gingen ins Kino und ins Café, MFK Fisher nahm Zeichenunterricht und belegte Bildhauerkurse, las und übersetzte französische Literatur. Voller Neugier stürzte das Paar sich auf Menschen und Speisen. „Wir steckten Servietten unter das Kinn und planschten in köstlich duftenden Schüsseln mit écrevisses à la nage. Wir verdarben unsere Gaumen mit Schnepfen, die so lange hingen, bis sie von ihren Haken herunterfielen, um dann gebraten auf ein Toastbett gelegt zu werden, das von einer Paste aus ihren fauligen Innereien und einem feinen Brandy ganz aufgeweicht war.“

Als Künstlerin eine Null, so ihre Selbsterkenntnis, entdeckte sie, dass ihre Kunst eine andere war: „The Art of Eating“ heißt der Sammelband ihrer berühmtesten Bücher (die, bis auf den Bericht aus Burgund, nur auf Englisch erhältlich sind). Glamourös wie ein Hollywoodstar, so hat Man Ray sie fotografiert, war sie dann doch nicht soo schön, wie sie nüchtern bemerkte, dass sie damit ihren Lebensunterhalt hätte verdienen können. Also fing sie mit dem Schreiben an, mehr als 20 Bücher, unzählige Texte für den „New Yorker“, ein paar Drehbücher für Hollywood. Ihre Übersetzung von Brillat-Savarins berühmter „Physiologie des Geschmacks“, gilt selbst als Klassiker.

Sie war eine Schriftstellerin, keine Kochbuchautorin. Er kenne in den USA niemanden, der bessere Prosa schreibe, erklärte der englische Lyriker W.H. Auden 1963. Die „New York Times“ bescheinigte ihr, ein neues Genre kreiert zu haben: eine sehr persönliche Mischung aus Memoiren, Reiseerzählung, kulturhistorischem Essay, kulinarischem Feuilleton.

In ihrer Biographie „Poet of the Appetites“ schreibt Joan Reardon, dass Fisher bestimmte Erinnerungen in verschiedenen Versionen erzählte, von denen möglicherweise keine wirklich der Wirklichkeit entsprach. Dem Leser ist das letztlich egal. Man liest ihre Bücher wie Romane, glaubt ihr, weil man ihr glauben möchte: dass das Leben ein Fest ist, ein lauer Sommerabend mit kühlem Weißwein und guten Freunden, eine Welt, in der es nur aufmerksame Kellner gibt und viel zu lachen.

Natürlich war das Leben nicht so. Einer glücklichen Kindheit folgten schwierige Phasen, traumatische Erlebnisse. Der Selbstmord ihres Bruders, finanzielle Probleme, das schwierige Verhältnis der meist alleinerziehenden Mutter zu den heranwachsenden Töchtern, die, wie sie fand, mangelnde Anerkennung der Eltern für ihre Arbeit und die schlimmste Tragödie: Fishers zweiter Mann, die große Liebe ihres Lebens, wie sie ihn nannte, wurde schwer krank, erst musste ihm das eine Bein abgenommen werden, dann auch das zweite, bis er die Schmerzen nicht mehr aushielt und sich erschoss. Da war sie 33 Jahre alt.

„Wenn ich nicht schreiben kann, koche ich, wenn ich nicht kochen kann, schreibe ich“, so hat MFK Fisher einmal ihr Leben beschrieben. Dazwischen war allerdings noch Platz für vieles andere: drei Ehen, zwei Scheidungen, diverse Affären, darunter auch eine langjährige mit einer Frau, etliche Reisen nach Europa zu einer Zeit, als die Überfahrt von der Westküste noch mehrere Wochen dauerte, jahrelange Aufenthalte in der Provence, ein Intermezzo als Lehrerin an einem schwarzen College in den 60er Jahren…

Obwohl sie Essen immer wieder in seiner urchristlichen Bedeutung, als Kommunion zwischen Menschen beschreibt (wobei sie auch das Essen allein im Restaurant ausgesprochen genoss), hat es nie etwas Heiliges bei ihr, selbst die himmlichsten Genüsse haben etwas durch und durch Irdisches. Das hängt wahrscheinlich auch mit ihren Lieblingsgewürzen zusammen, einer Prise trockenem Witz, einem Schuss Pragmatismus – ob sie den allgegenwärtigen Duft des Gewürzkuchens in Dijon beschreibt („nach Honig, Kuhmist und Gewürznelke“) oder das Liebesleben der Auster, der sie ein ganzes Buch widmete und eins ihrer zahlreichen kulinarischen Erweckungserlebnisse verdankte. Proust hatte nur seine Madeleine, MFK Fisher hatte viele Epiphanien, von der Schnecke bis zum Spiegelei-Sandwich.

Ihre bevorzugte Kost war auch aus heutiger Sicht ausgesprochen modern: saisonal und regional, köstlich, aber mäßig, ein, zwei Gänge, eher wenig Fleisch, selten Nachtisch, einfache Speisen, wobei einfach auch Kaviar bedeuten konnte, oder die von ihr so geliebten Kasserolen und Resteessen. Sie praktizierte und propagierte Slow Food, Jahrzehnte bevor der Verein erfunden wurde.

So wurde sie alt und immer noch schön, ihr Gesicht „eine Mischung aus frischem Pfirsich und gealteterter Kartoffel“, wie eine Besucherin fand. Ihr Tod 1991, mit 83 Jahren, war nicht ganz so, wie sie ihn sich ausgemalt hatte – zwischen Kühlschrank und Herd, in der einen Hand ein Wermut, in der anderen eine reife Birne –, aber friedlich.

Immer wieder wurde sie gefragt, warum sie über so triviale Dinge wie Essen und Trinken schreibe, statt sich wichtigen Themen zu widmen, Krieg zum Beispiel und Machtkämpfen. Weil, so schrieb sie in einer Art Glaubensbekenntnis, es im Leben immer um Hunger geht. Weil sich das nicht trennen lässt, der Hunger nach Essen, nach Sicherheit, nach Liebe. Das ist es auch, was all ihre Bücher sind: Liebesgeschichten.

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