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Neukölln - der kulinarische Hotspot Berlins: Neukölln wetzt die Messer

Dieser Berliner Bezirk hatte auch kulinarisch einen miesen Ruf. Vorbei! Ein Streifzug durch feine Lokale.

Samstag um elf, Mittagssonne scheint in die offene Küche. Es riecht nach gebratenem Schweinefleisch und zerlassener Butter. Auf den Tischen stehen Kisten mit frischem Gemüse: Salatköpfe, Rote Bete, Äpfel, Kartoffeln, Zwiebeln, Paprika. Die hat der Mann mit den erdigen Händen und dem sonnengegerbten Gesicht gebracht. Er kommt fast jeden Morgen mit seinem kleinen Transporter aus Brandenburg in die Sonnenallee 83.

Wir trinken Rhabarberschorle und stehen etwas nutzlos zwischen den polierten Arbeitsflächen, während die beiden Köche Ramsés Manneck (31) und Jean-Philipp Quintin (30) so ganz nebenbei, als hätten sie nie etwas anderes getan, anfangen, das Menü für den Abend vorzubereiten. Alle sehen ein bisschen müde aus, aber auch wahnsinnig glücklich. Wie frisch Verliebte. Ramsés öffnet eine kleine Plastikdose und bietet mir das, was dort schrumpelig, knusprig zwischen Küchenpapier liegt, zum Probieren an: frittierte Hühnerhaut. Die gehört zum Tartare de Boeuf, dem Liebling der Gäste, und schmeckt wie ein guter Chip. Seit Februar betreiben Ramsés aus Mexiko und seine drei Freunde das Industry Standard. Ein Feinschmecker-Restaurant mitten in Neukölln.

„Ihr seid doch verrückt! Komplett Banane!“ Diese Sätze hat man Ramsés und all jenen, die in den letzten Jahren in Neukölln Restaurants eröffnet haben, immer wieder zugerufen. Weil man den Mutigen und dem Kiez misstraute, den viele kaum zu betreten wagten, wegen seines schlechten Rufs. Aber immer mehr junge Gastronomen wie Ramsés bereichern mit ihrer Küche und unbändiger Leichtigkeit die „gefährliche“, graue Nachbarschaft.

„Fine Dining“ oder „gehobene Küche“ muss nicht mehr heißen: alberne Soßenspiegel, leere Teller und strenge Oberkellner. Auch nicht: weiße Tischdecken und Räume, in denen man sich nur flüsternd unterhalten möchte. Für die Neuköllner Gastronomen verbindet sich feines Essen mit gemeinsamem Wohlsein und dem Gefühl, angekommen zu sein. Die Küche ist frisch, schlicht, regional und saisonal. Essen also ohne Vorhang. Und trotzdem verspielt. Oft haben die Köche der Restaurants keine offizielle Ausbildung, sind Quereinsteiger und Künstler. Angetrieben von Liebe und Lebenshunger, das merkt man, und ja, das klingt auch ein bisschen kitschig.

Im Industry Standard wird ein Menü für Abenteurer und Neugierige serviert. Man isst Dinge, die man womöglich noch nie gegessen hat, wie Lammherz mit Sardinen und Wasserkresse oder Krake mit Speck-Dashi. Wie das schmeckt? Grandios, weich und knusprig, nach Erde und Meer. Auch wenn die Idee von einem Lammherz mehr schaurig-schön ist. Wie erste Dates. Das Industry Standard ist der ideale Ort für erste Male.

Ramsés Manneck, der Chefkoch dieser feinen Schweinereien, hat das Kochen von seinem Papa in Mexiko-Stadt gelernt. Er liebt lange Nächte. Das Wunschszenario für seine Gäste: Man stolpert mit vollem Bauch, berauschtem Kopf und happy morgens um halb zwei mit seinem Date aus dem Lokal.

Einer war sehr viel eher da: der Japaner „Tabibito“ auf der Karl-Marx-Straße. Am 11.11.1990 eröffnete Herr Watanuki aus der Not heraus – nach der Wiedervereinigung gab es im Westen kaum freie Gewerberäume – sein winzig kleines japanisches Restaurant. Bis heute eines der besten Sushi-Lokale Berlins.

Perlgraupenrisotto mit Orangenlauch

La Pecora Nera ist ein Bilderbuch-Italiener, Jana und Roberto sind die Chefs.
La Pecora Nera ist ein Bilderbuch-Italiener, Jana und Roberto sind die Chefs.

© Doris Spiekermann-Klaas

Als es noch keine Touristen und auch keine internationalen Hipster gab, die Nordneukölln an Wochenenden stürmten, sondern nur arme Freiberufler und noch ärmere Studenten, die wegen der billigen Mieten in den Reuterkiez nach Neukölln gezogen waren, da machte das Nansen auf. Das war 2008.

Hardy Stapelmoor und Sven Ittermann, beide 43 und die Besitzer der legendären „Minibar“ im Graefekiez, wollten gemeinsam mit ihrem Freund Thomas Seidemann (49) eine weitere Bar eröffnen. Als sie in der ehemaligen Tikibar am Maybachufer standen, erwuchs doch die Idee – entgegen allen Einwänden –, ein Restaurant zu machen. Einfach weil sie daran glaubten. „Die Lage Neukölln war uns egal. Die Konditionen waren super, wir hatten Freunde, die hier wohnten und von denen wir wussten, dass sie gutes Essen schätzen würden.“ Die Männerbande sollte recht behalten.

Ins Nansen führt man am besten die Eltern auf Berlin-Besuch aus, um zu zeigen, was Neukölln auch sein kann: Perlgraupenrisotto mit Orangenlauch, Kastanienseitling oder Wildschweinpfeffer mit Quitten und Lebkuchen. Der Chefkoch dieser Köstlichkeiten, Thomas, war in seinem frühen Leben Künstler. Aber „Kochen ist unmittelbarer, als allein im Atelier zu sitzen“, sagt er und bringt auf den Tisch, was er bei einem Restaurantbesuch selbst gern essen würde. Wer die Eltern doch nicht überzeugen konnte, kommt für einen Absacker auf dem Weg nach Hause und einen kurzen Kiez-Schnack an der Bar. Hier redet man noch mit seinen Nachbarn.

In Neukölln liegt das nach eigenen Angaben erste Paleo-Restaurant der Welt, das Sauvage, in dem gekocht wird wie in der Steinzeit, nur moderner – versteht sich. Aber hier findet man auch einen kleinen Venezianer, La Pecora Nera am Herrfurthplatz, mit Blick auf die Genezareth-Kirche. Ein Italiener wie aus dem Bilderbuch: rot-weiß karierte Tischdecken, im Hintergrund laufen alte Schmusesongs, die Karte klassisch, klein und unkompliziert. Perfekt, wenn mal wieder alles schiefgelaufen ist.

"In Neukölln spürt man die Berliner Seele"

Das Eins44 wurde in einer ehemaligen Destillerie eröffnet und bietet den Schick einer Manufaktur.
Das Eins44 wurde in einer ehemaligen Destillerie eröffnet und bietet den Schick einer Manufaktur.

© Doris Spiekermann-Klaas

Spätestens beim ersten Biss in knusprige Bruschetta mit Ricotta und Pilzen sind alle Sorgen wie weggeblasen. Das ist natürlich nicht „Fine Dining“, aber das deutsch-italienische Mittdreißiger-Paar Jana Siemonsmeier und Roberto Ugo Falcone macht alles richtig. Reichlich Knoblauch, kräftiges Olivenöl, guter Rotwein und Polenta mit ganz viel Käse. Der Abend soll nie zu Ende gehen!

Muss er auch nicht. Weil es so nett war, zieht man gleich weiter ins Circus Lemke auf der Selchower Straße und trinkt dort noch ein, zwei Moscow Mule zwischen Franzosen, Spaniern, Amerikanern und natürlich Italienern. Apropos Amerikaner, für den leichten Kater am nächsten Morgen sollte man unbedingt im Two Planet auf der Hermannstraße einen echten New-York-Bagel mit Lachs essen. Hilft!

Nicht so richtig ins Neuköllner Freigeist-Konzept will das Eins44 passen, dabei ist der Betreiber, Richard Reichel (50), der einzig wahre Neuköllner und echte Erwachsene. Das Restaurant in den Otto-Reichel-Höfen in der Elbestraße ist deutlich schicker als die Konkurrenz, wirkt auf den ersten Blick weniger wagemutig. Reichel, der im wahren Leben Immobilien kauft, saniert und wieder verkauft, wollte alles richtig machen und holte sich junge Profis aus der Branche, die wissen, wie der Zeitgeist tickt: Die Küche ist regional mit französischem Einschlag. Gerade gibt es Entenleber-Backpflaume-Rosmarin oder Seeteufel-Blutwurst-Apfel-Zwiebel.

Das Eins44 könnte der perfekte Einstieg für Charlottenburger und schüchterne Mitte-Tierchen sein, die mitreden wollen, aber sich doch noch ein bisschen fürchten und lieber mit dem Taxi statt der U-Bahn nach Neukölln fahren. In dem hohen hellen Raum der ehemaligen Destillerie, umgeben von Industrie-Schick aus dem 20. Jahrhundert, fällt das Vergessen leicht. Man könnte überall sein. Gleichzeitig ist es genau das, was den Charme von Neukölln ausmacht. Dass es diese wunderschönen Oasen eben auch gibt. In Hinterhöfen und kleinen Straßen.

„In Neukölln“, sagt Reichel, „spürt man noch die Berliner Seele“. Und: „Wer hierherzieht, weiß warum und steht auf einen bestimmten Lebensstil.“ Auf ein Leben mittendrin und zwischen den Kulturen, das sich Veränderungen und neuen Einflüssen nicht verwehrt. Das verändert natürlich auch die Küche, die Einstellung zu Essen und Genuss.

Keines der Restaurants will ein Ort des Hypes sein, sondern lieber eine Institution werden. Der vielleicht schwerste Schritt, weil das immer Neue eine alte Berliner Krankheit ist. Aber es hat solche Institutionen ja schon gegeben. Das „Exil“ zum Beispiel, welches das Künstlerpaar Ingrid und Oswald Wiener in den 70er Jahren am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer eröffnete. Auch ihnen rieten viele ab. Ingrid Wieners Antwort: „Kunst ist, wenn man’s trotzdem macht!“

Vom 14. Mai bis 30. Dezember widmet sich das Museum Neukölln (Alt-Britz 81) mit der Ausstellung „Die sieben Tische“ der Ess- und Gastkultur im Bezirk. Im Mittelpunkt stehen sieben gedeckte Tische aus realen Neuköllner Haushalten.

Carolin Würfel

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