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Politik: … wir schon mal Weihnachten feiern

Wenn zum Beispiel die Kollegin unaufgefordert Clementinen mit ins Büro bringt, dann merkt man: Weihnachten naht. Sonst merkt man es ja praktisch nicht mehr.

Wenn zum Beispiel die Kollegin unaufgefordert Clementinen mit ins Büro bringt, dann merkt man: Weihnachten naht. Sonst merkt man es ja praktisch nicht mehr. Die Vöglein singen, die Sonne scheint meistens, und wenn nicht, nieselregnet es warm, die Pflanzen blühen und auf den Märkten, die in früheren Zeiten mal Weihnachtsmärkte hießen, verdunstet der Glühwein. Auch kann man immer noch den Staubmantel überziehen, wohingegen der dicke Wintermantel ein unbefriedigendes, weil untätiges Dasein im Kleiderschrank fristet. Weihnachten? Wo denn? Wie denn? Wann denn? Und doch: Das Fest naht. Man merkt es nicht nur an den Clementinen der Kollegin, sondern auch an den Einladungen der Firmen: Einmal werden wir noch wach, heißa, dann beginnt die sechste Jahreszeit. Das ist die der Weihnachtsfeiern.

Weihnachtsfeiern sind total hip. In Zeiten, in denen es noch jahreszeitgemäß weihnachtete, da waren diese Feste öde und fad. Kerzen wurden angezündet, Tannenzweige standen herum, Gebäck wurde gereicht und der Chef hielt keine launige Rede, sondern eine, von der er meinte, sie sei besinnlich. Die Belegschaft, so sie denn anwesend war, gähnte verstohlen. Heute finden Weihnachtsfeiern in Varietés statt, in Spielcasinos, auf Hausbooten, in Strandbädern und in der Erlebnisgastronomie. Vom Band schallen die aktuellen Charts. Es darf getanzt werden. Und alle Feste laufen nach der Maxime, dass nirgendwo so viel gesoffen wird wie überall. Weihnachtsfeiern sind die Betriebsfeste der vergangenen Jahre. Einmal auf lau essen und trinken, sich abteilungsübergreifend endlich auch mal menschlich näher kommen, und natürlich Stoff sammeln für die Lästereien des kommenden Jahres.

Aber Obacht: Weihnachtsfeiern obliegen den gleichen Regularien wie ehedem Betriebsfeste. Das Duzangebot des Chefs sollte am Morgen danach erst mal vorsichtig auf seine Standhaftigkeit überprüft werden. Den nicht so ganz platonischen Blick auf die blond-langmähnige und langbeinige Pachulke vom Einkauf sehen auch andere, der führt zu üblem Tratsch. Und die Gesprächsthemen? Je nun, in diesem Jahr besser nicht vom Wetter anfangen. Könnte zu Spaltungen führen. Wenn man zum Beispiel sagt: „Klimakatastrophe, ich find das toll, man friert so gar nicht mehr“, kommt bestimmt der Duschke vom Controlling und öffnet sein politisch korrektes Herz. „Aber die Dritte Welt, katastrophal“, sagt der dann, und dann hat man wieder ein schlechtes Gewissen. Und der Knatsch ist da. Clementinen helfen da anderntags auch nicht mehr.uem

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