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Politik: 10 Jahre Sanktionen gegen Irak: "Wenn ich denke, werde ich verrückt"

Im Schutz der Palmen trifft sich Bagdads männliche Jugend, abend für abend am Tigris. In den Cafes, die sich am träge dahinfließenden Strom aneinanderreihen, spielen sie Domino.

Im Schutz der Palmen trifft sich Bagdads männliche Jugend, abend für abend am Tigris. In den Cafes, die sich am träge dahinfließenden Strom aneinanderreihen, spielen sie Domino. Wie besessen konzentrieren sie sich auf die weißen Steine, als böten sie ihnen den Lebensinhalt. Manchmal leistet sich der eine oder andere eine Wasserpfeife, eine Pepsi. Für mehr reicht das Budget nicht. Domino und Fußball sind heute die nahezu einzigen Vergnügen, in die sich Iraks Bevölkerung stürzt. Sie verhindern das Gespräch, blockieren das Denken. Denn - so beschreibt der 32-jährige Ahmed den Seelenzustand vieler Iraker: "Wenn ich denke, werde ich verrückt."

Ahmed zählt zu einer Generation, die ihre Zukunft verloren hat. Er stand an der Front gegen den Iran (1980-88) und wurde für die Invasion Kuwaits zu den Waffen gerufen. "Die Hälfte meiner Freunde starb vor meinen Augen durch iranische Kugeln, die andere trieben die Sanktionen ins Exil. Heute nimmt kein westliches Land mehr einen Iraker auf." Ahmed bleibt daheim. Arbeit findet der gelernte Ökonom keine. Eine Frau, eine Familie kann er sich nicht leisten. "Wofür", fragt der junge Mann verzweifelt und senkt den Blick auf die weißen Dominosteine.

Eine tiefe Hoffnungslosigkeit hat die Menschen des Zweistromlandes erfaßt, seit sie begriffen, daß die Welt entschlossen bleibt, sie kollektiv für die Verbrechen ihres Diktators zu bestrafen. Gemeint sind die Sanktionen, die der UN-Weltsicherheitsrat weniger als 100 Stunden nach dem Einmarsch Iraks in Kuwait verhängte. Sie sind - so das Kinderhilfswerk Unicef - die "härtesten und umfassendesten der Geschichte". Zu jener Zeit importierte der Irak 70 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs. Selbst Medikamente und Lebensmittel durfte Bagdad in den ersten Monaten des Embargos nicht einführen. Als diese Bestimmungen später gelockert wurden, fehlte es den Irakern aber an Devisen, weil sie kein Öl verkaufen durften.

Das Embargo "ist für den verhinderbaren Tod von mehr als einer Million Menschen verantwortlich", empört sich Dennis Halliday, der 1998 aus Protest gegen die Sanktionen sein Amt als Koordinator der humanitären UN-Aktivitäten im Irak zurücklegte. 5000 Kinder unter Fünf und 2000 ältere Menschen sterben nach Schätzungen Hallidays immer noch jeden Monat. Jedes fünfte Kind sei inzwischen unterernährt, jeder dritte Iraker Analphabet, stellt Hallidays Nachfolger Hans von Sponeck fest, der ebenfalls in Protest aus dem Amt schied. Eine Unicef-Studie bestätigt, daß sich die Kindersterblichkeit seit 1990 von 56 pro tausend Geburten mehr als verdoppelt hat.

Internationale Hilfsorganisationen stellten schon lange fest, daß die Sanktionen das öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Infrastruktur zum Zusammenbruch brachten. Spitäler betteln um Blutkonserven und die grundlegendsten sanitären Hilfsgüter. Schulen fehlt es an Papier, Stiften und Büchern; Wasserrohre rosten und bersten (55 Prozent der Wasserzufuhr geht nach Schätzungen deshalb heute verloren). Eine seit zwei Jahren anhaltende Dürre hat die Gemüseproduktion in den zentralen und südlichen Provinzen auf die Hälfte der 1998 eingefahrenen Ernte reduziert.

Ein Jahrzehnt der Sanktionen hat gravierende ökonomische, soziale und psychologische Wunden geschlagen. Das Bruttonationalprodukt sackte von 3500 Dollar pro Kopf auf 700 ab. Die dramatische Verarmung, der soziale und ökonomische Verfall sind nach Ansicht von Experten "einmalig in der Geschichte der modernen Welt". Seit die UNO 1996 eine Einigung mit Bagdad für das "Öl für Nahrungsprogramm" fand, hat sich die Situation ein wenig entschärft.

Die verzweifelte Not hält die Bevölkerung in Atem und raubt ihr die Kraft zur Rebellion, während der Diktator die Schraube der Repression fest angezogen hält. Zugleich hat Saddam Hussein im Laufe der Jahre ein umfangreiches Schmuggelnetz geflochten, das ihm beträchtliche Erträge sichert. Laut amerikanischem Magazin "Forbes" hat Saddam in den vergangenen zwei Jahren sein Privatvermögen von drei auf fünf Milliarden Dollar erhöht. Im Abul Khassib, südlich von Basra, werden die Öltanker am hellichten Tag beladen. Sie fahren der Küste entlang in iranische Hoheitsgewässer, wo die Fracht als iranisch deklariert und in einem der Häfen auf der arabischen Seite des Golfs zu Weltmarktpreisen abgesetzt wird. Heute, so stellten jüngst US-Kreise fest, verdiene das irakische Regime von diesem Schmuggel zwischen 25 bis 40 Millionen Dollar pro Monat, zweimal mehr als noch vor zwei Jahren.

"Was sich seit zehn Jahren im Irak ereignet ist eine vollständiger Bruch internationalen Rechts", wettert Halliday. "Denn man bestraft ein Volk, um den Herrscher zu Fall zu bringen." Laut Halliday handelt es sich dabei um Genozid. Die Definition des Völkermordes schließe bereits die Intention ein. "Da der Weltsicherheitsrat die Sanktionen seit zehn Jahren im Bewußtsein der Folgen aufrechterhält", sei der Sachverhalt der "Intention" erfüllt. Selbst US-Außenministerin Madeleine Albright gestand 1996 ein, daß die Sanktionen "eine halbe Million Kinder" getötet hätten. Doch dies sei der "Preis", den man zahlen müsse.

Birgit Cerha

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