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Bundespräsident Joachim Gauck

© dapd

100 Tage im Amt: Wie Joachim Gauck zum Präsidenten der Herzen wurde

Er will das ESM-Gesetz nicht unterschreiben, hat die Deutschen „glückssüchtig“ genannt und die Energiewende kritisiert: Joachim Gauck hat in seinen ersten 100 Tagen als Bundespräsident gemacht, was erwartet wurde - er hat überrascht. Das Volk liebt die Tränen in den Augen seines Präsidenten.

Von Antje Sirleschtov

Es ist Montagmittag, und der Bundespräsident wird im Garten des Schloss Bellevue gleich eine Rede halten. Vor der Bühne ein paar hundert junge Leute aus ganz Deutschland, die für Schülerzeitungen schreiben oder sich sonst irgendwie engagieren. Joachim Gauck mag solche Veranstaltungen. „Demokratielehrer“ nennt er sich selbst, und was liegt da näher, als junge Leute in seinen Garten einzuladen.

Gauck strahlt, als er die Stufen zur Bühne mit drei lässigen Sprüngen nimmt, er breitet seine Papiere aus und richtet das Mikrofon. Es ist jetzt zwölf Uhr Mittag, die Sonne brennt erbarmungslos und Gauck überlegt einen Moment. Darf er? Oder lieber nicht? Gauck zögert. Aber dann tut er es doch, zieht das graue Sakko aus, befreit sich mit beiden Händen von seiner roten Krawatte, als raube ihm dieses Kleidungsstück schon lange den Atem, und schließlich knöpft er auch noch den Hemdkragen auf. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben: Das ist besser.

Man kann diesem Mann dabei zusehen, dass Freiheit für ihn mehr als nur ein Wort ist. Unten im Publikum finden sie das wunderbar. Wann hat man das schon? Einen Präsidenten mit so viel Sinn fürs Bürgernahe?

Die Grenze der Freiheit misst 25 Quadratzentimeter und ziert tags darauf die Titelseite der „Bild“-Zeitung. Die druckt ein Foto, aufgenommen an jenem selben fröhlichen Tag im Schlossgarten. Zu sehen ist Gauck, wie er in seinem offenen Hemd auf einer Bank sitzt, zwischen den jungen Leuten und eng an ein junges Mädchen gedrängt, das er füttert mit einem Obstspieß. In der lockeren Atmosphäre des Nachmittags war nichts Anstößiges an dieser Szene. Da saß der Herr Gauck und reichte seiner jungen Banknachbarin einen Spieß mit Erdbeeren, Ananas und einer Weintraube, von dem sie abbiss.

Bildergalerie: Gaucks Wahl zum Bundespräsidenten

Zum Problem wird das Foto. Man kann das Ungezwungene nicht fotografieren. Es verliert sich in den Projektionen, mit denen das Amt des Bundespräsidenten behaftet ist. Plötzlich ist da nicht mehr der Augenblick zu sehen, sondern dass der oberste Repräsentant Deutschlands ein junges Mädchen mit einem Obstspieß füttert. Eine Grenzüberschreitung, ein Übergriff. Gaucks Berater haben ihn vor der öffentlichen Wirkung solcher Fotos gewarnt. Doch im Alltag vergisst er das. So ist er, lässt sich mitreißen von der Situation, folgt seinen Instinkten. Und dann passiert so etwas wie mit dem Foto, und plötzlich wird sichtbar, dass sich da eine Mauer um Joachim Gauck geschlossen hat am Nachmittag des 18. März 2012.

Die Leute mögen Gauck, weil er so anders ist

Seit diesem Tag ist der Bürger Gauck Präsident aller Deutschen, und es gab, Angela Merkel und ein paar Linke mal ausgenommen, kaum jemanden im Land, der diese Wahl als einen Fehler gesehen hat. Mit seinen 72 Lebensjahren, die meisten als Pfarrer und Staatskritiker in der DDR verbracht, gilt Joachim Gauck als Inbegriff eines aufrechten, glaubwürdigen und verlässlichen Mannes. Einer, der kluge Worte zu wählen und zu setzen weiß. Seine Natürlichkeit und vor allem sein Vermögen, sich immer wieder zu befreien von nichtssagenden Sprechblasen der Politiker: Das ist es, was die Leute an ihm schätzen. „Kandidat der Herzen“ wurde er einmal genannt.

100 Tage ist Joachim Gauck jetzt im Amt, und längst ist aus dem Kandidaten auch ein Präsident der Herzen geworden. Die Leute mögen ihn, gerade weil er so anders ist als die anderen da oben an der Macht. Und das ist ja schon mal was, nach all dem Ärger und der Verachtung, die dem Amt unter Gaucks Vorgänger Christian Wulff entgegenschlug. Er macht sie vergessen die Schmach an der Spitze Deutschlands. Jetzt haben wir ja Gauck.

Und wie wir Gauck haben. Der Präsident jagt von Termin zu Termin, rastlos. Er empfängt Botschafter, er ehrt verdiente Bürger, er trifft die Königin der Niederlande, reist zu Staatsbesuchen nach Polen, nach Israel, nach Italien. Kaum eine Woche vergeht, in der Joachim Gauck nicht in den Schlagzeilen der Zeitungen erscheint. Natürlich waren auch die Kalender seiner Vorgänger dicht gespickt mit Protokollarischem. Es gehört nun mal zu den Pflichten eines frisch gewählten Bundespräsidenten, sich der Öffentlichkeit im In- und Ausland am Anfang vorzustellen.

Bildergalerie: Joachim Gaucks Vereidigung

Und doch ist es mit diesem Präsidenten anders als mit seinen Vorgängern Wulff und Köhler. Während die zunächst ganz und gar in den Grenzen ihrer Ämter aufzugehen schienen, hat man bei Gauck sofort den Eindruck, als hätten die Bühne gleich zwei Männer betreten – der Bundespräsident und Gauck.

Auf der einen Seite ist da der wortgewaltige Pastor, selbstgewisser Seelenfänger mit unbändigem Sendungsbewusstsein. Ein Mann, vital und herzlich, der die Freiheit lange vermisst hat und sie nun umso mehr zu seinem Lebensthema erkoren hat. Und neben ihm muss sich der oberste Diener des Volkes behaupten, der Präsident, oberster Repräsentant mit fest gefügten Dienstpflichten, die so weit gehen, ihm vorzuschreiben, wann er wem bei einem Bankett die Hand zu reichen und wie lange er sich wo aufzuhalten hat. Zu den Nachteilen dieses Amtes, hat Christian Wulff einmal gesagt, gehöre es, dass er immer der Letzte sein müsse, der zu einer Party kommt, und der Erste, der sie verlässt.

Mit den Gepflogenheiten des Amtes noch nicht vertraut?

Unvorstellbar, von Gauck ein solch beklemmendes Bekenntnis zu hören. Sind sie also Rivalen, der Präsident und Gauck?

Ganz bestimmt sind sie das. Das wurde kürzlich bei einem Interview deutlich, das der Bundespräsident der „Zeit“ gab. Als die Journalisten das Gespräch mit den Worten beendeten: „Herzlichen Dank, Herr Bundespräsident“, da sagte dieser: „Das war mehr Gauck als Bundespräsident.“

Das Besondere an diesem Präsidenten, es hat auch eine Kehrseite. Und die scheint just in diesen Tagen besonders folgenreich zu sein. Ausgerechnet in der entscheidenden Phase der Rettung des Euro gerät der Bundespräsident ins Fadenkreuz einer Auseinandersetzung der höchsten Verfassungsorgane des Landes. Und es keimt der Verdacht, Bürger Gauck könnte verantwortlich für das Durcheinander sein.

Es geht um den milliardenschweren Rettungsschirm ESM, mit dem Europa sich für alle Zeiten wappnen will gegen die Angriffe der Spekulanten des Finanzmarktes. Aufgespannt werden soll er, so sind die europäischen Planungen, Anfang Juli. Eile ist daher geboten, schließlich taumeln Nationen wie Spanien und Italien einer schwindenden Kreditwürdigkeit entgegen. Wird der Stabilitätspakt nicht rechtzeitig fertig, ist der Euro bedroht. Deutschland, der größte Geldgeber für den ESM, hat angekündigt, das notwendige Gesetz am 1. Juli in Kraft treten zu lassen. Und alle schauen gespannt, ob die Deutschen das fertigbringen. Die Kanzlerin ist der Opposition bei wesentlichen Forderungen entgegengekommen, die hat dafür zugesagt, am 29. Juni im Bundestag für den ESM und auch den Fiskalpakt zu stimmen. Und obwohl der Bundespräsident bei diesem Ratifizierungsprozess noch gar nicht an der Reihe ist, hängt nun plötzlich alles an ihm. Oder soll man besser sagen: Es geht um den Bürger Gauck?

Bis ins Letzte wird die Sache wohl nicht aufzuklären sein. Auf jeden Fall hat Gauck Mitte April, er war kaum im Amt, in Brüssel bekannt gegeben, keinen Zweifel daran zu haben, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Sache akzeptieren werde, was die Regierung vorschlägt. Nicht nur konnte Gauck das zu jenem Zeitpunkt nicht wissen. Der Satz war ein Affront gegenüber der Unabhängigkeit des Gerichts. Und als Affront wurde er auch sofort aufgefasst. Nur sehr Wohlmeinende gaben zu bedenken, dass der Präsident offenbar mit den Gepflogenheiten seines Amtes noch nicht recht vertraut war.

Die Sache hätte damit aus der Welt sein können, denn tatsächlich hielt sich Gauck von da an mit Äußerungen dieser Art zurück. Aber dass sie nun ihre eigene Dynamik entfaltet, sagt viel aus über das schwierige Spannungsverhältnis, in dem Gaucks Präsidentschaft steht.

Bildergalerie: Der Freiheitskämpfer Joachim Gauck

Die Karlsruher Verfassungsrichter jedenfalls hatten seit Gaucks Brüsseler Äußerung Grund anzunehmen, dass der Präsident ihre höchstrichterlichen Ansichten über den Rettungsschirm ESM wohl nicht abzuwarten gedenke. Dass er es, wenn es der Bundestag am 29. Juni beschlossen hat, mit dem Tempo unterschreiben werde, das die Berliner Spitzenpolitiker immer wieder anmahnen.

An einer zwischenzeitlichen Klarstellung zwischen dem Präsidialamt und dem Karlsruher Gericht muss es dann wohl auch gefehlt haben. Wie anders hätte sonst eine Bemerkung des stellvertretenden Sprechers von Kanzlerin Angela Merkel an diesem Mittwoch die Nervosität zum Überschäumen bringen können? Der nämlich gab in Bezug auf die zu erwartende Unterschrift Gaucks unter das ESM-Gesetz bekannt, „ich nehme mal an, dass er zeitnah unterschreibt“.

In den empfindlichen Ohren oberster Richter war das der Satz, der schlimmste Befürchtungen zu bestätigen schien. Der Bundespräsident übergeht das Urteil des Verfassungsgerichtes, er will ganz offenbar dem Gericht die Möglichkeit nehmen, das Gesetz im Zweifel ganz zu kippen. Ein Skandal, nie vorher dagewesen. Aber ihn abwarten wollten die Richter auch nicht. So forderte Karlsruhe Gauck öffentlich auf, mit seiner Unterschrift zu warten, bis das Gericht sich ein Bild gemacht habe. Worauf das Präsidialamt schließlich mitteilte, der Präsident werde das ESM-Gesetz erst einmal nicht unterschreiben.

Der Eklat war damit zwar abgewendet und ohnehin ging es nur um Erwartungen und Spekulationen, aber Gauck hat drastisch vor Augen geführt bekommen, welche Nachwirkungen eine seiner Äußerungen im politischen Raum haben konnte.

Gauck und Merkel

Angela Merkel hat das auf ihre Weise schon zu spüren bekommen. Auf der Terrasse des Jerusalemer King-David-Hotels hat Gauck mal eben ihren Begriff von der deutschen „Staatsräson“ in Bezug auf die Sicherheit Israels einkassiert, ohne im Kern anderer Meinung zu sein oder zu erkennen zu geben, was er selbst wohl täte, wenn Israel in einen Krieg verwickelt würde. Und nachdem sie den Wahlverlierer Norbert Röttgen auch aus dem Amt des Umweltministers warf, musste der Präsident diesen Akt der Härte öffentlich vollziehen. Doch Gauck wollte sich bei der Amtsübergabe an Röttgens Nachfolger Peter Altmaier keineswegs zum bloßen Vollstrecker Merkel’scher Machtentscheidungen machen lassen. Geschickt nutzte er die Gelegenheit, mit lobenden Worten über den Politiker Röttgen die Kälte seines Rauswurfs offenzulegen. Und die Kanzlerin musste, so verlangt es eben das Protokoll, die ganze Zeit neben ihm stehen und zuhören. Sie, die ostdeutsche Pfarrerstochter, die bis zum Schluss verhindern wollte, dass er, der ostdeutsche Pfarrer in das oberste gesamtdeutsche Amt kommt. Spätestens seit diesem Tag weiß man: Dieser Präsident wird ein Präsident der Überraschungen sein.

So lugt das Andere, das Besondere an diesem Präsidenten in den ersten 100 Tagen schon überall hervor, wo er auftaucht. Zunächst sein Herz, ein offenbar riesiges Organ, das da in seiner Brust schlägt, mit unbändigem Drang nach außen. Schon an dem Tag, als Gauck Präsident wurde, war es dieses große Herz, das „mit allen Kräften Ja sagt zu der Verantwortung“. Man hat schon Amtsinhaber gesehen, die sich in schwierigeren Zeiten mit weniger Pathos auf ihre Pflichten eingelassen haben. Immerfort ist er „berührt“, „gerührt“, steht mit weinenden Augen vor dem Denkmal für die ermordeten Juden in Yad Vashem oder preist mit weiter Geste „die Pracht der Blumen“ in seinem Präsidentengarten.

Wobei er keineswegs die Rosen meint. Die „Blumen“ des Joachim Gauck sind die 400 jungen, engagierten Leute. Man kann Gaucks Hang zur Bühnen-Empathie als Gefühlsduselei betrachten. Vor allem, wenn er sein Publikum ohne Rast in alle Höhen und Tiefen seines Herzens hineinsehen lässt. Die Deutschen allerdings, so fanden jetzt Demoskopen heraus, sie mögen das Wasser in den Augen ihres Präsidenten. Es gibt ihnen das Gefühl, an etwas Bewegendem, Großem teilzuhaben. Oder einfach nur einem ganz normalen Menschen zu begegnen und nicht einem Amtsträger, wie sie zu Dutzenden in den politischen Schaltzentralen des Landes zu finden sind und mit ihrer Konformität die Verachtung der Macht schüren.

Nicht nur ein Mann des roten Teppichs

Dass er die Deutschen „glückssüchtig“ nennt, wenn er vor Offizieren der Bundeswehr das mangelnde Interesse an den in seinen Augen notwendigen Auslandseinsätzen der Soldaten rügt, seinen „Mut-Bürgern“ in Uniform, das wird ihm dabei nachgesehen. Und auch seine Kritik an allzu viel „Planwirtschaft“ bei der Umstellung der nationalen Energieversorgung auf Sonnenkollektoren und Windräder.

Gaucks Vorgänger hielten in der gleichen 100-Tage-Spanne oft eine einzige beachtenswerte Rede, in der sie ihren Anspruch an die Amtszeit deutlich machten. Joachim Gauck ist das zu wenig. Er hastet weiter. Heute Vormittag zum Finale der Diskussionsreihe „Jugend debattiert“, am Montag eine Büste von Horst Köhler enthüllen und später Tony Tan Keng Yam, den Präsidenten von Singapur begrüßen. Am Mittwoch beginnen die nächsten 100 Tage.

Man darf gespannt sein, wem Joachim Gauck gestatten wird, die Oberhand zu behalten, ihm selbst oder dem Präsidenten. Wobei eines schon klar zu sein scheint: Sich in das Korsett zwingen, sich zu Deutschlands Mann des roten Teppichs formen zu lassen, das wird mit ihm nicht zu machen sein.

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