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Nebenklage-Anwältin Seyran Kerdi-Elvan

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100 Tage NSU-Prozess: Kerdi-Elvan: "Es ist unerträglich, wie langsam der Prozess verläuft"

Nebenklage-Anwältin Seyran Kerdi-Elvan erklärt in ihrem Zwischenfazit, dass sie der Prozess nicht nur juristisch fordert, sondern auch menschlich.

Das Medieninteresse im Allgemeinen ist gegenüber dem NSU-Prozess fast nicht vorhanden. Dieser Umstand ist mehr als bedauerlich und enttäuschend. Die tägliche Berichterstattung müsste gegeben sein, um der Bevölkerung die Bedeutung dieses Prozesses  immer wieder vor Augen zu führen. Der NSU-Prozess wird nicht nur geführt, weil „Ausländer“ getötet wurden, sondern weil unter anderem auch der jetzige Rechtsstaat angegriffen wurde.

Diese Tatsache wird durch die Medien nicht ausreichend zum Ausdruck gebracht. Vielmehr verbinden die Menschen mit dem NSU-Prozess oft „lediglich“ so genannte Türkenmorde und denken sich, das geht mich nichts an, ich bin kein Türke. Dieser Umstand erklärt auch, warum viele Menschen den NSU-Prozess überhaupt nicht kennen und damit nichts anfangen können.

Der Prozess ist sehr anstrengend und zeitintensiv. Er fordert von uns, den Interessenvertretern, sehr viel Organisationgeschick. Neben dem NSU-Verfahren muss der tägliche Kanzleibetrieb auch mit anderen Mandanten am Laufen gehalten werden. Hierfür sind sehr gute Mitarbeiter notwendig. Den meinen spreche ich großen Dank aus.

Der Prozess fordert mich nicht nur als Juristin, sondern vielmehr als Mensch. Meine Mandantin Adile Simsek, die Witwe des in Nürberg erschossenen Blumenhändlers Enver Simsek, nimmt nicht oft an den Verhandlungen tei. Es ist für sie fast unerträglich, wie langsam und mühsam der Prozess verläuft, auch zum Teil die Zeugenbefragungen. Ihre Hoffnungen, dass der Prozess Aufklärung darüber bringen würde, warum und weshalb ihr Ehemann sterben musste, blieben bis jetzt unerfüllt. Auch wenn Frau Simsek nicht an den Verhandlungen persönlich teilnimmt, will und wird sie über die täglichen Prozesstage von meiner Kollegin Seda Basay-Yildiz und mir informiert werden und bekommt Antworten auf ihre Fragen. Es ist schwer zu ertragen und zu verkraften, jedesmal die Enttäuschung und Trauer von ihr und die sinnlose Ermordung ihres Ehemannes und dessen Folgen für sie, ihre Kinder und Familie neu zu erleben. Aber dieser Umstand gibt auch immer wieder Kraft und Mut, an dem Prozess teilzunehmen und sich einzubringen, weil die Mandantin und ihre Familie ein Recht auf Aufklärung haben. Daher dürfen wir als Nebenklägervertreter uns nicht davon abbringen lassen, in dem Prozess immer wieder nachzufragen und nachzuhaken, auch wenn dies vom Gericht und Bundesanwaltschaft nicht so gern gesehen wird. Aber es geht darum, soweit wie möglich Aufklärung darüber zu erhalten, warum und wie die Morde erfolgten - und wichtiger noch - in unserem Rechtsstaat geschehen konnten und so lange unaufgeklärt blieben.

Die Bilder der getöteten Opfer zu ertragen ist schwer. Aber dieses persönliche Betroffen sein ist nichts, wenn ich das Leid und den Schmerz der Angehörigen erlebe. Der Schmerz und das Leid ist für sie permanent da, sie leben damit tagtäglich. Trotzdem ist meine Mandantin nicht verbittert und lebensmüde. Sie versucht das Leben zu meistern, obwohl ihr mit der Ermordung ihres Ehemannes fast alles genommen wurde - der Lebenspartner, der Vater ihrer Kinder, die finanzielle Existenzgrundlage. Das Blumengewerbe musste aufgegeben werden. Die Ehre und Rechtschaffenheit wurden beschädigt durch die Ermittlungen gegen sie und ihre Brüder und Verleumdungen gegen ihren Ehemann als Kriminellen. Der Umgang meiner Mandantin mit ihrem Schicksalsschlag gibt auch mir als Rechtsanwältin und Freundin der Familie Kraft und Energie für meine Arbeit im NSU-Prozess.

Juristisch geht alles seinen Weg. Der Prozess läuft, es werden aber mit großer Wahrscheinlichkeit noch sehr viele weitere Verhandlungstage erforderlich sein. In diesem Prozess und in den Untersuchungsausschüssen sind viele Tatsachen aufgedeckt worden, die zeigen, dass der Rechtsstaat nicht so funktioniert hat, wie er eigentlich funktionieren musste. Es ist offensichtlich geworden, dass der Staat und Teile der Bevölkerung auf dem rechten Auge blind waren. Dieses Blindsein muss aufhören. Alle müssen gegen Angriffe gegen den Rechtsstaat und zum Schutz aller Bürger, sensibilisiert werden.

Der NSU-Prozess bestätigt, welche schlimmen Taten und Pannen und Versäumnisse  passieren können, wenn diese Sensibilisierung fehlt und die rechtsstaatlichen Institutionen und Bürger davon ausgehen, dass die Opfer nur Opfer geworden sind, da sie auch potentielle Kriminelle waren.

Nach dem jetzigen Stand des Verfahrens ist davon auszugehen, dass die Opfer mit türkischen und griechischen Wurzeln nur deswegen sterben mussten, weil sie ausländischer Herkunft waren. Durch die Morde sollten der Rechtsstaat und die Gesellschaft sehen: egal wie gut Bürger mit ausländischem Hintergrund integriert sind, sie gehören nicht zu Deutschland.

Angesichts des NSU-Prozesses sollte tagtäglich jeder Bürger für sich überprüfen, wie weit er selber in seinem täglichen Handeln und Denken ausländerfeindlich ist. Es reicht eben nicht nur aus, dass man  „Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung“ verbal von sich weist.

Alltägliche Diskriminierung und Ausländerfeindlichkeit erfolgen sehr subtil, oft ohne dass  der Handelnde sich hierüber bewusst ist. Für den Betroffenen ist es dann umso schwieriger, sich zu verteidigen. Wenn Menschen mit angeblich „ausländischem Aussehen“ gefragt werden, woher sie kommen, will der Fragende mit Sicherheit nicht ausländerfeindlich sein. Wenn diese Frage jedoch mit einem Ort in Deutschland beantwortet wird und der Fragende sich aber auch noch nach der Herkunft der Eltern und gegebenfalls der Großeltern erkundigt, bis ein anderes Herkunftsland als Deutschland herauskommt, dann muss sich der Fragende schon den Verdacht gefallen lassen, vielleicht unbewusst ausländerfeindlich zu sein.

Es muss auch eine Sensibilisierung dafür geben, dass die Äußerung „ Du bist anders als die anderen Türken“ kein Kompliment darstellt, sondern ausländerfeindlich ist. Denn es gibt nicht den Türken oder den Deutschen. Mit dem angeblichen Kompliment wird nur bestätigt, dass die Menschen nach Herkunftsländern verallgemeinernd einordnet werden.

Genauso stellen die Äußerungen von Richtern und gegnerischen Rechtsanwälten in Verfahren mit Parteien mit ausländischem Hintergrund,  in Deutschland seien „bestimmte Verhaltens- und Verfahrensweisen gegeben oder einzuhalten“,  eindeutig Ausländerfeindlichkeit dar. Denn wenn in Deutschland verhandelt wird, ist doch nicht extra zu betonen, „dass in Deutschland bestimmte Verhaltens- und Verfahrensweisen gegeben wären oder einzuhalten seien“. Diese Äußerung fällt nur dann, wenn Parteien oder Rechtsanwälte mit angeblich ausländischer Herkunft im Verfahren beteiligt sind. Gegenüber angeblich „Deutschen“ kommt nie eine solche Äußerung. Daher ist subtil in den Köpfen vorgegeben, was angeblich „deutsch“ ist.

Durch die Arbeit im NSU-Prozess ist mir besonders deutlich geworden, dass ich immer auch gegen diese subtile Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung vorgehen muss, damit diese nicht unbewusst das Fundament für schreckliche Taten werden, wie die, um die es in diesem Prozess geht.

In dem Verfahren selbst erschreckt mich, wie wenig die Opferfamilien wahrgenommen werden. An einem Verhandlungstag stand ich mit Frau Simsek in der Reihe zur unmittelbaren Sicherheitskontrolle vor dem Sitzungssaal. An diesem Tag hatte Frau Simsek auch ihren Enkelsohn mit dabei. Aus diesem Grund half ich ihr den leeren Maxi-Cosi zu tragen, weil sie bereits den Kinderwagen mit dem Baby führte. Vor uns stand einer der Verteidiger. Er drehte sich zu Frau Simsek und zu mir um und teilte uns mit, dass der Eingang nur für Prozessbeteiligte sei und der Besuchereingang woanders. Dass einer der Verteidiger Frau Simsek nicht erkannte, bestätigte mir, dass die Opferfamilien nicht wahrgenommen werden, obwohl die Familie Simsek gerade zu Beginn des Prozesses sehr medienpräsent war.

Umso mehr wird der NSU-Prozess mit Nachdruck von mir und meiner Mandantin verfolgt werden.

Seyran Kerdi-Elvan ist Rechtsanwältin in Friedberg. Sie vertritt Adile Simsek, die Witwe des in Nürnberg erschossenen türkischen Blumenhändlers Enver Simsek.

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