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Nebenklage-Anwalt Peer Stolle.

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100 Tage NSU-Prozess: Peer Stolle: „Der Prozess verfehlt die umfassende Aufklärung“

Nebenklage-Anwalt Peer Stolle rechnet zwar am Ende des Prozesses Verurteilungen, aber nach 100 Tagen Prozess beklagt Stolle, dass das Ziel, Strukturen und Taten des NSU umfassend aufzuklären, wohl verfehlt wird.

Nach 100 Hauptverhandlungstagen kann man konstatieren, dass nach der bisherigen Beweisaufnahme die Anklage im wesentlichen bestätigt worden ist. Die  Angeklagten werden am Ende des Verfahrens voraussichtlich wegen der ihnen vorgeworfenen Taten verurteilt. Die Ziele meines Mandanten, einem der Söhne des in Dortmund vom NSU ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik, gehen aber darüber hinaus. Er will Antworten auf die Fragen finden, wer gehörte alles zum NSU?, wer hat ihn unterstützt?, was wussten staatliche Stellen und wie groß ist deren Beitrag bei der Entstehung des NSU und den von ihnen verübten Verbrechen? Auch sollten Antworten auf die Frage gefunden werden: Warum gerade Mehmet Kubasik? Was waren die Kriterien - neben der Einteilung von Menschen nach rassistischen Kriterien - für die Auswahl der Opfer?

Dieses Ziel, Struktur und Taten des NSU umfassend aufzuklären, verfehlt der Prozess aber bislang. Insbesondere bleiben die Kriterien der Opferauswahl genauso im Dunklen wie das Unterstützerumfeld des NSU und der Kenntnisstand in den Behörden. Dies liegt einerseits an den bisher gehörten Zeugen aus der rechten Szene, die in dem Prozess Erinnerungslücken vortäuschen oder schlicht die Unwahrheit sagen, andererseits an dem Verhalten der Bundesanwaltschaft, das einer notwendigen Aufklärung entgegenwirkt.

Dabei hatte der Anfang des Prozesses überraschend Hoffnungen geweckt. Der Angeklagte Carsten S. hat in seiner Aussage beispielsweise Angaben zu einem weiteren Sprengstoffanschlag gemacht, der bisher nicht dem NSU zugerechnet wurde. Diese Aussage belegt, dass nicht nur weitere Taten dem NSU zugerechnet werden müssen, sondern dass auch der Kenntnisstand des Umfelds anderes bewertet werden muss. Schließlich haben sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegenüber Carsten S. gebrüstet, bewaffnet zu sein und Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle zu begehen.

Wenn man von weiterer Aufklärung sprechen kann, dann dahingehend, dass die Behörden noch viel mehr vertuscht haben als bisher bekannt. Warum aber gelogen, verdeckt, vertuscht und geschreddert wird, diese Frage ist weiterhin offen.

Erschütternd war es, wenn die Bilder von den Ermordeten an die Wände im Saal A101 projiziert wurden. Bilder, die noch mal auf eindrückliche Weise den Hinrichtungscharakter der Morde veranschaulichten. Es war auch erschreckend zu sehen, wie stark institutioneller Rassismus in den Behörden und individuelle rassistische Einstellungen der Ermittler die Ermittlungen prägten. Dies manifestierte sich am deutlichsten bei den Ermittlungen zu den rassistischen Morden. Aber selbst bei dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und dem versuchten Mord an ihren Kollegen in Heilbronn wurde in Berichten der Polizei von "Negern" gesprochen. Und von "Zigeunern", bei denen sozialisationsbedingt eine Nähe zur Lüge bestehe, ohne dass einer von den ermittelnden Beamten an dieser rassistischen Wortwahl Anstoß gefunden hätte.

Deutlich wurde auch, dass es der Bundesanwaltschaft am Willen zur umfassenden Aufklärung fehlt. Ihr Erkenntnisinteresse reduziert sich scheinbar auf die fünf Angeklagten und den in der Anklageschrift behaupteten Sachverhalt. Beweisanträgen oder Fragen der Nebenklägervertreter zu dem Umfeld des Trios und rechten Strukturen in Tatortnähe tritt die Bundesanwaltschaft entgegen. Auch gegen die Beiziehung von für die Aufklärung notwendigen weiteren Akten sperrt sie sich massiv. Dies betrifft unter anderem sämtliche Aktenordner aus dem Verfahren gegen den damaligen Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes, Andreas T., der sich während des Mordes an Halit Yozgat in Kassel am Tatort aufgehalten hat. Es betrifft auch die Listen über weitere Beschuldigte und Kontaktpersonen in dem NSU-Komplex  und die Art und Weise der Gewährung von Einsicht in die Asservate. Außerdem wird seitens der Bundesanwaltschaft immer wieder versucht, kritische Nachfragen der Nebenklage, insbesondere zu der politischen Einstellung der Zeugen und ihrer möglichen Einbindung in die rechte Szene, zu unterbinden. Dabei bilden sich bezeichnenderweise regelmäßig Allianzen mit der Verteidigung Zschäpe. Aufklärung sieht anders aus.

Die nächsten 100 Tage sollten daher genutzt werden, möglichst noch mehr Licht in das viele Dunkel des Umfeldes des NSU zu bringen.

Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin. Er vertritt einen Sohn des am 4.April 2006 in Dortmund erschossenen Kioskbesitzers Mehmet Kubasik.

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