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Eine zeitgenössische Darstellung zeigt Otto von Bismarck, den Reichskanzler.

© imago/Danita Delimont

150 Jahre Kaiserproklamation in Versailles: Das ruhmlose Reich

Die Kriegsgeburt von 1871 ist kein Höhepunkt deutscher Geschichte. Das am 18. Januar proklamierte Kaiserreich war kein gewöhnlicher Staat. Ein Essay.

Ein Essay von Albert Funk

An diesem Montag ist es 150 Jahre her, dass sich eine der größten Fehlleistungen in der deutschen Geschichte ereignet hat. Am 18. Januar 1871 wurde im Schloss von Versailles das neue Kaiserreich ausgerufen, in einer Versammlung von Militärs, mitten in einem Krieg mit Frankreich, der aus dem Ruder gelaufen war. Ein schnelles Ende war nicht sicher, Friedensverhandlungen standen nicht an. Die Zahl der Toten war erschreckend hoch. Es begann sich Ernüchterung zu verbreiten in den deutschen Staaten im Januar 1871. Wie in vielen Kriegen davor und danach hatte man sich falsche Vorstellungen über Verlauf und Folgen gemacht.

Nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris. Überschäumender Nationalismus herrschte auf beiden Seiten und machte blind. Frankreichs Regierende waren an diesem Krieg keineswegs unschuldig. Ganz im Gegenteil. Napoleon III. hatte es Otto von Bismarck, dem politischen Hauptverantwortlichen auf deutscher Seite, recht einfach gemacht. Das Ergebnis war eine tiefe, bleibende Gegnerschaft. Durch einen demütigenden Frieden und die Annexion von Elsass und Lothringen auf Dauerbetrieb gestellt, war sie ein Verfassungselement des Kaiserreichs.

Wunden, die nicht verheilten

Dieser Krieg schlug Wunden, die sehr lange nicht verheilen sollten. In Versailles wurde bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg den Deutschen die Revanchekarte gezeigt. Dass man es nun mit einer deutschen Republik zu tun hatte, half wenig. Sie hieß übrigens offiziell weiterhin Deutsches Reich. Wenige hatten damals das Gefühl, der Staat von 1871 hätte aufgehört zu existieren. Es war Konsens, dass knapp 50 Jahre vorher die Nation zu sich gekommen, dass in Versailles ein deutscher Nationalstaat ausgerufen worden war. Und der sollte fortbestehen.

Nach 1945 schwante dann zwar vielen, dass die Kriegsgeburt von 1871 über 1919 hinaus auch mit 1933 zu tun hatte und damit auch mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg. Aber auch in der Bundesrepublik wollte man sich lange nicht so richtig an den Gedanken gewöhnen, dass die angebliche Nationalstaatsgründung von 1871 eine Fehlleistung gewesen war. Bundespräsident Gustav Heinemann hatte nicht einmal seine SPD ganz hinter sich, als er 1971 recht kritische Worte fand. Hundert Jahre Deutsches Reich heiße eben „nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945“.

Ein Dreifachereignis

Doch was wurde da eigentlich gegründet vor 150 Jahren? Im Grunde war es ein Dreifachereignis. Einmal entstand das großpreußische Reich, das Bismarck angestrebt hatte. Er wollte seine im 18. Jahrhundert geschaffene Militärmonarchie aus der Rolle als geringste der fünf Mächte, die den Kern des europäischen Staatensystems bildeten, herausführen und Habsburg und Frankreich hinter sich lassen. Daher auch der Krieg von 1866.

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Die bürgerliche Nationalbewegung, repräsentiert vor allem durch die sehr selbstbewussten Nationalliberalen, sah das neue Konstrukt zukunftsgewiss auf dem Weg zu einem Nationalstaat im Sinne eines Einheitsstaates. Und dann entstand auch ein Fürstenbund – die Schar der Mittelstaaten war wegen der preußischen Annexionen zwar dezimiert, aber Bayern, Sachsen, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Baden zusammen waren trotz der preußischen Hegemonie ein Machtfaktor.

Auf dieses Interessenkartell war die neue Verfassung, durchaus kunstvoll vorbereitet von Bismarck, ausgerichtet. Doch da für den Reichstag das allgemeine Männerwahlrecht vorgesehen war, kam über das bürgerlich-protestantische Milieu hinaus auch das restliche Volk ins Spiel. Das Mittel, das neue Reich nicht zu demokratisch werden zu lassen, fanden die drei Reichsgründungskräfte in der Ausgrenzung und der Repression. Die „Reichsfeinde“ im Inneren waren eine Erfindung vor allem der borussisch-nationalliberalen Allianz.

Ausgrenzung und Repression

Es war die zweite große Fehlleistung, die sich mit dem Kaiserreich verbindet. Sie begann mit dem Kulturkampf gegen die Katholiken. Es folgten die Sozialistengesetze gegen die Sozialdemokratie. Da die Linksliberalen im bürgerlichen Lager das nicht durchweg mitmachen wollten, wurden auch sie in diesen Topf geworfen. Polen, Dänen, Elsässer und Lothringer galten als national unzuverlässig, ebenso die Gegner des preußischen Staates in den annektierten Gebieten. Am Ende waren es auch die Juden, die hinzugezählt wurden.

Aber das Ausgrenzungsregime hatte nicht die erwünschte Wirkung. Der Druck auf die katholische Zentrumspartei, die SPD und – in geringerem Maß – die Fortschrittlichen und Freisinnigen machte sie nicht kleiner, sondern stärker. Seit 1881 hatten diese drei politischen Kräfte in fast allen Reichstagswahlen die Mehrheit der Stimmen (wenn auch nicht der Sitze, wegen der Mehrheitswahl). Es war also die spätere Weimarer Koalition, die schon 30 Jahre vor der Gründung der Republik die Mehrheit der Deutschen repräsentierte.

Demokratisierung ohne Demokratie

Aber sie kamen vor 1914 nicht dauerhaft zusammen. Im komplexen politischen System des Kaiserreichs – letztlich eine Art Verhandlungssystem zwischen den Institutionen im Reich und den Einzelstaaten – hatten sie zwar ihre Möglichkeiten. Aber das Kaiserreich war ein Staat gegen die Mehrheit des Volkes. Es gab Demokratisierung, aber keinen Durchbruch zur Demokratie.

Das Kaiserreich war von gravierenden Defiziten gekennzeichnet. Dass es ein autoritärer Staat war, daran kann man angesichts der Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit, die ja gegeben waren, wenn auch mit Abstrichen, Zweifel hegen. Dass es nicht zu einer parlamentarischen Regierungsweise im Reich kam, ein Hauptkritikpunkt schon vor 1914, lag auch nicht allein am Widerstand der monarchischen Regierungen. Völlig unparlamentarisch ging es zudem gar nicht zu. Der Jurist Georg Jellinek brachte das System auf die Formel, „die deutschen politischen Parteien streben nicht nach der Regierung, sondern nach der Macht über die Regierung“.

Militarismus und Nationalismus

Aber der vor allem von Preußen ausgehende Militarismus und die Kommandogewalt des Kaisers, also des preußischen Monarchen, waren eine dauernde Belastung. Und nach 1890 machte sich ein aggressiverer Nationalismus breit, mit imperialistischen und völkischen Zügen, der das Großmachtverlangen weiter trieb als 1871. Die Flucht in den Krieg 1914 ist nicht ganz ohne Grund als Versuch gewertet worden, einen neuen Reichseinigungskrieg vom Zaun zu brechen, weil der Herrschaftselite das Reich einerseits zu plural, zu modern und zu schwer regierbar erschien. Und weil sie sich andererseits vom neuen, weit rechts angesiedelten Nationalismus getrieben fühlte. Die dritte große Fehlleistung der Verantwortlichen vor 1914.

Das Kaiserreich ist zweifellos ein faszinierendes Objekt der historischen Betrachtung. Und es steckt einiges in ihm, was zur Vorgeschichte der Bundesrepublik gehört. Aber eine starke Traditionslinie zu ziehen bis zum Deutschland von heute, das geht zu weit. War das Kaiserreich „ein gewöhnlicher Staat“, wie die Historikerin Hedwig Richter schreibt? Leider nein. Wir hätten sonst mehr Kontinuität gehabt seit 1871.

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