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Politik: 180 Kilometer Papier und kein Ende

Am Anfang standen Fragen. Etwa die der ostdeutschen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: "Glauben Sie das wirklich?

Am Anfang standen Fragen. Etwa die der ostdeutschen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: "Glauben Sie das wirklich?", fragte sie Joachim Gauck, Pfarrer und Stasi-Experte. Es war September 1990, die DDR stand vor dem Ende. Der Einigungsvertrag war unterschriftsreif. Es gab nur ein Problem: Was passiert mit den Stasi-Akten? Die Revolutionäre, die den Geheimdienst zerschlagen hatten, wollten offene Akten, die Bundesregierung wollte sie wegschließen.

Eine Gruppe um Bohley hatte aus Protest die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße besetzt - zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres - und war in den Hungerstreik getreten. Gauck pendelte zwischen Bonn und Berlin, um zu vermitteln. Am Ende saß er bei den Besetzern und verkündete: "Mit Bildern und Gedichten erreichen wir nichts. Wir brauchen konkrete Vorlagen, die wir einem Rechtsanwalt an die Hand geben können." Ein Gesetz musste her. Das war Gaucks Überzeugung. Und Bohley fragte: "Glauben Sie das wirklich?"

Schließlich haben Gauck und Bohley ihr Ziel erreicht. In einer Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag wurde ein gesamtdeutsches Akten-Gesetz verabredet. Grundlage sollte eine Vorlage der DDR-Volkskammer sein. Am 20. Dezember 1991 beschloss der Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Neun Tage später trat es in Kraft. Joachim Gauck wurde Behördenchef und Beauftragter für 180 Kilometer vergilbtes Papier. Doch das Hauptproblem blieb immer gleich: die Balance zwischen öffentlichem Interesse an Aufklärung und Persönlichkeitsschutz von Einzelnen. Besonders heftig wurde diskutiert, wenn Stasi-Kontakte von Politikern bekannt wurden. Die Vergangenheit von Lothar de Maiziere, Manfred Stolpe oder Gregor Gysi beschäftigte Gerichte und Medien über Jahre. Es dauerte nicht lange, bis selbst kluge Köpfe wie Günter Gaus meinten: "Nichts als die Wiederaufstellung des Prangers haben uns die Stasi-Akten gebracht."

Mittlerweile ist die Herausgabe Routine. Noch immer gehen Tausende Anträge auf Akteneinsicht ein, das Interesse von Forschung und Medien ist ungebrochen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist zur deutsch-deutschen Erfolgsgeschichte geworden. Doch es gibt weiterhin viel Diskussionsstoff. Etwa die Westarbeit der Stasi, deren Aufdeckung Streit innerhalb der Behörde provozierte. Oder die Herausgabe der Stasi-Akte von Altkanzler Helmut Kohl, die das Berliner Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt hat. Und der politische Konflikt zwischen der neuen Akten-Hüterin Marianne Birthler und Innenminister Otto Schily um die Herausgabepraxis.

All diese Konflikte, die im Frühjahr wieder an Schärfe gewinnen dürften - dann entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in Sachen Kohl - zeigen zweierlei. Erstens: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist zuweilen noch ein "Fremdkörper" (Birthler) im bundesdeutschen Rechtssystem. Zweitens: Der Fremdkörper wird nach und nach integriert. Gaucks Credo war richtig. Wenn man das Erbe einer Revolution bewahren will, braucht man etwas, was man Rechtsanwälten an die Hand geben kann. Bilder und Gedichte reichen nicht.

Verrat in Säcken

In den Archiven der Stasi-Unterlagen-Behörde reihen sich 180 Kilometer Akten und 40 Millionen Karteikarten aneinander. Zudem werden Hunderttausende Bild- und Tondokumente ausgewertet und 15 600 Säcke zerrissene Stasi-Papiere wieder zusammengesetzt.

Fast 1,9 Millionen Menschen haben in den vergangenen zehn Jahren einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Monatlich gehen noch 10 000 Anträge ein. Zudem stellten Behörden, Unternehmen, Gerichte, Forscher und Medien mehr als drei Millionen Ersuchen wegen Stasi-Überprüfungen oder Auskünften an die Behörde.

In der Behörde arbeiten 2600 Beschäftigte. Neben der Zentrale in Berlin gibt es 14 Außenstellen in den ehemaligen Bezirksstädten der DDR. Innerhalb des Hauses arbeitet eine Wissenschaftsabteilung, die Strukturen und Wirkungsweisen der Stasi erforschen soll. Seit 1993 legten die Historiker mehr als 50 Publikationen vor, zudem gibt es Ausstellungen, eine Bibliothek und mehrere Dokumentationszentren.

Neben der Bundesbeauftragten gibt es in den neuen Bundesländern auch Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen. Sie kümmern sich vor allem um die Beratung von Stasi-Opfern und die politische Bildung. ide

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