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Flüchtlinge 1945 auf dem Weg in den Westen. Zum Internationalen Gedenktag erinnert unser Autor sich an seine Flucht.

© picture-alliance / Judaica-Samml

1945 als Flüchtling in Deutschland: "An Willkommenskultur war nicht zu denken"

Niemand verlässt seine Heimat wegen des deutschen Sozialsystems. Das weiß ich, weil ich weiß, was Flucht bedeutet. Zum Internationalen Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung - ein Gastbeitrag.

- Helmut Schmidt war Professor und Rektor an der Fachhochschule der Deutschen von Bundespost Berlin und ist seit 50 Jahren in der SPD. Der Internationale Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung wurde 2014 vom Bundestag beschlossen und fand 2015 erstmals statt.

Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in Deutschland meldet immer wieder Zahlen von Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. In diesem Jahr sind es fast 80 Millionen. Man stelle sich vor, fast die ganze Bundesrepublik sei auf der Flucht. Für die meisten kaum vorstellbar.

Aber es ist nur 75 Jahre her, als zwölf Millionen Menschen auf der Flucht in die heutige Bundesrepublik waren, in völlig zerstörte Städte und geplünderte Dörfer – und ich war dabei.

Ich kam aus einer kleinen Stadt, in der in den letzten Tagen des Krieges die ersten Bomben fielen, es waren kaum mehr als drei insgesamt. Aus dieser heilen Welt wurden wir – Frauen meiner Familie und ich im Kinderwagen – per Dekret am Tag zuvor - am 20. Juni 1945 mit Handgepäck in die Trümmerwelt des Deutschen Reiches getrieben.

Die Aufnahme der ersten Vertriebenen in den deutschen Grenzgebieten war von Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit geprägt, aber die Welle der massenhaften Vertreibung schlug über den Hilfsbereiten zusammen, und es war in Dörfern und Gemeinden objektiv nicht möglich, allen zu helfen. An eine Willkommenskultur war in den zerstörten Städten und überlaufenen Gemeinden im Landesinneren schon gar nicht zu denken. Alle waren in Not und sorgten sich ums Überleben. Mein Bruder Wolfgang, auf dem Weg der Vertreibung geboren, hat es nicht geschafft.

Mit seinem Tod auf unserer ersten längeren Station nach der Vertreibung beginnt bei mir eine eigene Erinnerung an diese Zeit. Als er in Heßberg in Thüringen beerdigt worden ist, habe ich ihn bedauert, dass er „aus dem tiefen Loch nicht mehr herauskann.“

Anfang 1946 hat die Schwester meiner Mutter erfahren, wo wir waren. Sie hatte das Kriegsende nicht in unserer Heimatstadt, sondern im Erzgebirge erlebt. Sie ist dann zu uns gekommen und wir lebten zu viert in einem Zimmer eines Nebengebäudes des Bauernhofes. Ein Unwetter beendete unser Wohnen dort: Die Zimmerwand zum Hof fiel nach außen, und wir standen im Freien. Das war für uns das Zeichen für den erneuten Aufbruch.

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Aus Thüringen haben wir mit falschen Namen und Papieren und von einem Schlepper geführt „rübergemacht“. Als wir in der amerikanischen Zone angekommen sind, habe ich gefragt, ob ich jetzt wieder Schmidt heiße – als ein illegaler Immigrant war ich nun staatenloser Volksdeutscher und Migrant. Den Rechtsstatus als Deutscher habe ich – wie die ganze Familie - erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Nachfolger des Deutschen Reiches erhalten. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg von der bayrisch-thüringischen Grenze durch Nord-, Süd- und Westdeutschland.

Meine Mutter und ihre Schwester haben 1948 erfahren, dass ihr Vater aus der CSR aus dem Gefängnis entlassen und ausgewiesen worden war. Ihre Eltern lebten in einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Franken. Die Schwestern hielten eine Großstadt im Westen der Republik für eine bessere Ausgangsposition zum Aufbau einer eigenen Existenz. Ihre Wahl fiel auf Düsseldorf, wo Vertriebene aus unserer Heimatstadt eine Zweizimmerwohnung bekommen hatten und uns zumindest vorübergehend aufnehmen wollten.

Wir waren fremd, und man ließ uns das spüren

Meine Tante fand bald eine Anstellung in der Nähe von Basel in der Schweiz, meine Mutter suchte und fand eine Anstellung im Amtsgericht Düsseldorf. Aber wir waren Fremde, und man ließ es uns spüren. Und doch kam in Düsseldorf unser Leben allmählich zur Ruhe. Wir richteten uns ein, und es gab aber bald auch neue Freunde und Bekannte. Wir wurden ein Teil der Stadt und konnten sie auch ein Stück weit mitprägen. 

Und auch für die Gegenden, die verlassen werden und verlassen werden müssen, haben die Fortziehenden Bedeutung. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen, als ich 1968 zum ersten Mal wieder in der kleinen Stadt war, aus der ich stamme. Die Tatsache, dass damals mehr als 90 Prozent der Bevölkerung vertrieben worden war, hat die Stadt in den Ruin getrieben. Die Spuren waren überall zu sehen. Geschlossene Fabriken, die meisten gehörten zur Textilindustrie, die einst von überregionaler Bedeutung war.

Ich habe bei meinen Besuchen in den vergangenen 30 Jahren erlebt, wie die Stadt langsam wieder aufgeblüht ist. Sie ist als historische, mittelalterliche Stadt vom tschechischen Staat gewürdigt worden und baut sichtbar auf die Stärken ihrer Lage und dem damit verbundenen Potenzial auf, wie es meine Vorfahren über viele Generationen getan haben.

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Vor allem Jugendliche sind engagiert und setzen auf Europa, auch wenn manche, auch Politiker, noch Stimmung gegen alles Deutsche machen. Ich habe ein neues, für mich auch emotional wichtiges Verhältnis zu meiner Geburtsstadt entwickelt, erlebe und unterstütze die Neugier der Bewohner auf die gemeinsame Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen auf beiden Seiten. Diese Tiefen können wir in Zukunft nur vermeiden, wenn sie uns gemeinsam bewusst sind und durch respektvolles, faires Miteinander überwunden werden.

Wenn wir uns an diese Zeit der Flucht und des Ankommens im Westen erinnern würden, käme uns Zweierlei wieder in den Sinn: Menschen verlassen nicht wegen des deutschen Sozialsystems ihre soziale Umwelt, sondern aus bitterer Not. Und die in Deutschland Ausgebombten und die zwölf Millionen nach Deutschland Vertriebenen, auch Rucksack-Deutsche aus der kalten Heimat genannt, haben gemeinsam das geschaffen, was heute die Grundlage für unseren Wohlstand ist. Es gibt viele Gründe, auch heute auf Zuwanderer zu setzen, denen geholfen wird - und die diese Hilfe im Laufe ihres Lebens an das Land ihrer Rettung zurückgeben.

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