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2. Juni 1967: Die Stunde der Zeugen

Ein Kind, das alles sah, aber kaum gehört wurde, ein persischer Arzt, der beim Vertuschen von Beweisen half – Benno Ohnesorgs Tod am 2. Juni 1967 und das Geschehen danach erscheinen von Tag zu Tag monströser.

Hansi hat am 2. Juni 1967 einen Logenplatz; genau genommen sind es drei. Er flitzt aus dem Kinderzimmer in die Küche, dann ins elterliche Schlafzimmer und wieder zurück. Immer dahin, wo er den besten Blick auf das Geschehen draußen im Hof hat. Die Rollläden sollten unten bleiben, hatte die Mutter gesagt. Aber Hansi, bald wird er neun Jahre alt, hat sie wieder hochgezogen, ein paar Zentimeter. Dass Erwachsene Räuber und Gendarm spielen, bekommt man nicht alle Tage zu sehen.

Was ist da draußen an der Teppichklopfstange los? Hansi rennt in die Küche. Ein Handgemenge, es sind auch Polizisten mit Mützen und Knüppeln dabei. Ein großer dünner Mann steht am Rande, er wirkt unbeteiligt, beobachtend. Er trägt ein rotes Hemd. Das fällt Hansi auf. Keiner sonst in dem Durcheinander hat ein rotes Hemd an.

Immer mehr Polizisten kommen in den Hof. Jetzt hat Hansi ein ganzes Menschenknäuel direkt vor dem Fenster. Atemlos sieht er hinaus, hört einen Knall, er sieht einen Mann mit einer Pistole in der Hand. Der Mann trägt einen Anzug, und er steht allein.

Vielleicht zwei Meter von dem Mann im Anzug entfernt sieht Hansi den Mann im roten Hemd zu Boden fallen. Den Studenten Benno Ohnesorg, getroffen von einer Kugel aus der Pistole des Polizeibeamten und Stasi-IMs Karl-Heinz Kurras.

Hansi hat schon oft geschossen, und er ist schon oft erschossen worden. Da draußen, in diesem Hinterhof, Krumme Straße, Berlin-Charlottenburg, kann man toll spielen. Aber plötzlich, hinter seinem Hochparterrefenster, wird ihm klar: Der Mann im roten Hemd steht nicht mehr auf. Hansi hört nicht den Wortwechsel, der sich – Prozessakten belegen dies – unmittelbar nach dem Schuss ereignet. „Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?“ Kurras: „Die, die ist mir losgegangen!“ Vor dem Schuss war – laut Zeugenaussagen – noch etwas zu hören: Ohnesorg rief zu Polizisten, die ihn verprügelten: „Aufhören, aufhören!“ Seine letzten drei Worte waren: „Bitte nicht schießen!“ Das kann nur einer sagen, der sieht, dass auf ihn gezielt wird.

Über 40 Jahre, ein halbes Leben lang, trägt Hans-Hermann B. seine Beobachtungen mit sich herum. Vor einem Jahr informierten ihn zwei Journalisten darüber, dass seine vergilbte Zeugenaussage, aufbewahrt im Berliner Landesarchiv, in einem Buch nachzulesen sei. In dem Moment hatte ihn die Geschichte aus seiner Kindheit wieder eingeholt.

Der Student Edelbert W., damals 26 Jahre alt, lief zum gleichen Zeitpunkt über den Hof, direkt an Hansis Beobachtungsposten vorbei. Seine Aussage: „Jetzt stellte ich fest, dass ich nach hinten das Grundstück nicht verlassen konnte. Ich machte daher eine Wendung … Als ich etwa 3 m gelaufen war, hörte ich den Ruf einer männlichen Person ,Schießen’. Der Ruf war deutlich. Ich fasste diesen Ruf als Warnung eines Demonstranten etwa mit der Deutung ‚Achtung, die schießen!’ (auf). Ich vermutete, dass mit den Schießenden die Polizisten gemeint waren … Ich hielt im Lauf ein, und ich drehte mich voll etwa in Richtung des vermeintlichen Rufers um. In diesem Moment sah ich etwa in Hüfthöhe etwas aufblitzen, das ich für ein Mündungsfeuer hielt und noch halte. Ich habe vorher noch nie ein Mündungsfeuer gesehen. Ich dachte sofort: das ist ein Schuss. Gleichzeitig hörte ich auch einen Knall.“

Beides, Hans-Hermann B.s und Edelbert W.s Aussagen, ist im Landesarchiv nachzulesen. Vor Gericht spielte es bisher nie eine Rolle. Nun jedoch hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungsakten – auf jedem Aktendeckel findet sich der Vermerk „historisch wertvoll“ – angefordert.

Im Charlottenburger Hinterhof – der Schuss ist gefallen, der Ruf „Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg!“ ertönt – kümmern sich drei Frauen um den blutenden Mann. Friederike Dollinger, die bei Ohnesorg kniet, bittet darum, endlich eine Ambulanz zu holen. „Ist denn niemand hier, der helfen kann? Er kann ja nicht mehr alleine aufstehen, und er atmet ja auch kaum noch.“ Ein Polizist brüllt sie an: „Was? Dem wollen Sie noch helfen?“

Am 4. Juni 1967 wird Hansi von einer Polizistin vernommen, die unter ihr Protokoll schreibt: „Hans-Hermann B. machte seine Angaben in recht kindlicher Form … Es wurde der Eindruck gewonnen, dass er zwischenzeitlich aufgrund äußerer Einflüsse (Fernsehen, Zeitung, Unterhaltung mit Erwachsenen und Kindern) in keiner Weise in der Lage war, tatsächliches Geschehen wiederzugeben. Er wurde nach der Vernehmung dem Vater übergeben.“ B. aber ist sich heute noch sicher, dass er der Beamtin nur das, was er auf dem Hof gesehen hat, erzählte. Nichts hinzugefügt hat, nichts weggelassen, nichts aus den Zeitungen oder dem Fernsehen übernommen. Die Bilder dort waren damals schwarz-weiß. Er aber sah: ein rotes Hemd.

Ohnesorg wird auf eine Trage gelegt, festgeschnallt und abtransportiert. Eine ebenfalls verletzte Demonstrantin, von Beruf Krankenschwester, fährt mit einem Krankenwagen mit. Von Krankenhaus zu Krankenhaus. Das Achilles-Krankenhaus am Kurfürstendamm ist überfüllt, in der Universitätsklinik Westend ist angeblich kein Chirurg verfügbar. Die Krankenschwester hinten im Wagen fühlt bei Ohnesorg schon keinen Puls mehr. Der Krankenwagen rast weiter, weit in den West-Berliner Osten, nach Moabit; die Polizei dirigiert ihn dorthin. Endlich kommt ein Arzt. „Wieso bringen Sie mir einen Toten?“, blafft der die Sanitäter an.

Im Krankenhaus Moabit beginnt nun eine gespenstische Operation. Die Einschussstelle über Ohnesorgs rechtem Ohr wird freigelegt. Ein Knochenstück, etwa von der Größe einer Streichholzschachtel, wird mit einer Zange herausgetrennt. In dessen Mitte befindet sich das Einschussloch. Da die Art der Verletzung Ohnesorgs, die Schusswunde, so zunächst vertuscht wird, können besorgte Polizeibeamte – es gab sie, sie wussten vom Waffengebrauch ihres Kollegen und wollten wissen, was er angerichtet hat – in den Berliner Krankenhäusern keinen durch einen Schuss verletzten Demonstranten finden.

Bei der nächtlichen Operation war der junge persische Assistenzarzt Homayoun T. anwesend. Ein Arzt mit iranischen Wurzeln. Er lebt heute nahe der österreichischen Kleinstadt Feldbach. Wer ihn dort aufsucht, dem erklärt er ausweichend, dass man die Schussverletzung nicht habe erkennen können. Homayoun T. ist der Sohn des damals reichsten Mannes Persiens, sein Vater war mit dem Schah befreundet, und er, T., wollte sich am Morgen des 3. Juni 1967 mit dem Schah im Hotel zum Frühstück treffen. Wegen der Umstände sei dieses Treffen abgesagt worden. Der Schah – sein damaliger Berlin-Besuch war der Anlass für die Demonstration und den Polizeieinsatz am 2. Juni – sei sehr traurig über den Tod eines Demonstranten gewesen. Dem damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins, Heinrich Albertz, sagte der Schah anderes: „Sie müssen noch mehr erschießen, dann haben Sie hier Ruhe.“ Auf Weisung seiner Vorgesetzten füllte T. den Totenschein aus, auch wenn der Todeszeitpunkt falsch war. Widerspruch, sagt er, wagte er nicht.

Als Albertz um Mitternacht eine von seinem Pressesprecher vorbereitete Erklärung verbreiten ließ („Die Geduld der Stadt ist am Ende!“), wusste er nichts von einem Schuss. Heute betrachtet sein einstiger Pressesprecher diese nächtliche Erklärung als einen „schweren politischen Fehler“.

Die Todesursache Ohnesorgs erfuhr die Stadt dennoch umgehend. Denn der junge Innensenator Wolfgang Büsch schritt beherzt ein und ordnete die sofortige Obduktion an. Dabei kam es dann am nächsten Morgen zum Eklat, als das fehlende Knochenstück bemerkt wurde. Ein die Obduktion beaufsichtigender Kriminalkommissar forderte die Beschlagnahme der Krankenhausabfälle der vergangenen Nacht, um sie durchsuchen zu lassen – das Beweisstück war verschwunden.

Die Spitze der Berliner Polizei begann sofort, an einer Verteidigungsstrategie für Kurras zu arbeiten. In Ost-Berlin ging die Staatssicherheit auf Distanz zu ihrem IM Otto Bohl alias Kurras und benannte ihn in den Akten als „Mörder Benno Ohnesorgs“. Kurras begann zu trinken. Sein Leben geriet aus den Fugen: vom Dienst vorläufig suspendiert und seiner, wie man heute weiß, vielfältigen Dienstpflichten und auch seines Zusatzeinkommens aus Ost-Berlin beraubt.

Eine frühere Verlobte fand plötzlich eine von ihm in der ehemals gemeinsamen Wohnung Jahre zuvor zurückgelassene Kiste mit einer Waffe und 1460 Schuss Munition. Dies führte zu einer Verurteilung: 400 D-Mark. Während seiner Suspendierung arbeitete Kurras als „Kalfaktor Schneider“ in einem Großhandelsmarkt, wo er unter anderem dadurch auffiel, dass er nach Feierabend selbstherrlich Getränke, meistens Bier, an die Belegschaft verteilte, die er zuvor aus den Regalen des Marktes geräumt hatte.

In zwei Verfahren wegen „fahrlässiger Tötung“ Benno Ohnesorgs wurde er freigesprochen, kam danach in den Innendienst der Polizei. Nachdem im Juli 1971 eine aus Berlin-Spandau stammende RAF-Terroristin in Hamburg von der Polizei erschossen worden war, forderte Kurras seine Dienstwaffe zurück, da er sich bedroht fühlte – und erhielt sie, ohne Wissen des Polizeipräsidenten. Bekannt wurde dies erst, als er im August 1971 ein neunjähriges Mädchen auf einer Parkbank geküsst hatte. Als die Polizei eintraf, fand sie Kurras betrunken auf der Bank schlafend, neben ihm, in der Aktentasche, seine Waffe. Die Anzeige der Eltern des Mädchens wurde, aus welchen Gründen auch immer, bald zurückgezogen.

Im Mai 1977 wollte ein Fotograf des „Stern“ anlässlich der zehnten Wiederkehr des Todes von Benno Ohnesorg ein Foto von Kurras aufnehmen, weshalb er ihn vor seinem Spandauer Wohnhaus abpasste. Es kam zu einer Auseinandersetzung. Die Kamera ging zu Bruch, und herbeigerufene Polizisten beschlagnahmten den Film. Für den anschließenden Prozess – gegen den Fotografen – benötigte Kurras die Zeugenaussage einer aus der Tschechoslowakei stammenden Hauswartsfrau. Mit vorgehaltener Waffe soll Kurras die Hauswartsfrau gezwungen haben, eine von ihm selbst getippte Zeugenaussage zu unterschreiben. Zitternd unterschrieb sie.

In ihrer Gewissensnot fragte sie einen ihr bekannten Polizisten, Günther S., was sie tun solle. Dieser riet ihr, vor Gericht das Zustandekommen ihrer Zeugenaussage zu schildern – was auch mit einem anderen Ereignis zusammenhängen dürfte. Kurras hatte ihm, Günther S., bei einem Jahrzehnte zurückliegenden Polizeieinsatz durch einen unmotivierten Schuss eine Schulterverletzung zugefügt und soll dafür nicht einmal um Entschuldigung gebeten haben.

Bei dem Prozess gegen den Fotografen widerrief die Tschechin schließlich die erzwungene Aussage, worauf auch der Polizeibeamte, der vor Ort im Einsatz gewesen war und den Film des Fotografen beschlagnahmt hatte, des Meineids überführt wurde und dies zugab. Kurras beschimpfte daraufhin diesen Beamten, den er selbst zum Meineid angestiftet hatte. Der Richter bescheinigte Kurras einen bedenklichen Charakter.

Vor der Kamera des ZDF-Magazins „Frontal 21“ berichtete die einstige Hauswartsfrau vergangene Woche noch von einem anderen Erlebnis, das sie mit Kurras gehabt hatte. Als sie, wie damals oft, gemeinsam mit Kurras’ Frau in einer Waschküche Bettwäsche gemangelt hatte, sei Kurras hinzugekommen, und irgendwie kam man auf den Hintergrund der Sache mit dem Fotografen zu sprechen. Kurras beschrieb die Situation, in der er Benno Ohnesorg erschoss: Er habe seine Waffe gezogen, auf den Hinterkopf Ohnesorgs gezielt und abgedrückt. „Ein Lump weniger“, habe er gesagt, ergänzt die Frau gegenüber dem Tagesspiegel.

Kurras konnte, so scheint es, unternehmen was er wollte – Nötigung, Anstiftung zum Meineid, Sexualdelikte, Körperverletzung – er wurde nie wieder verurteilt. Erst heute, im hohen Alter von 81 Jahren, droht ihm erstmals Ungemach. Nachdem bekannt wurde, dass er für die Stasi gearbeitet hat, werden Forderungen laut, ihn wegen Mordes anzuklagen, was möglich ist, da Mord nicht verjährt und er bisher nicht wegen Mordes angeklagt wurde, sondern wegen fahrlässiger Tötung.

Kurras reagiert heute auf die Vorwürfe trotzig. Immer wieder verkündet er vor laufender Kamera, er müsse erst „mit seiner Behörde“ reden. Einem alten Bekannten gegenüber äußerte er vor über zwei Jahren, dass er über die „Sache Ohnesorg“ nicht reden dürfe. Das habe ihm die Polizei verboten, verbunden mit einer angedrohten Kürzung der Pension.

Und Hansi, Hans-Hermann B.? Hat inzwischen seinen 50. Geburtstag hinter sich, er hat Familie und zwei Kinder. Seine Tochter hat für die Schule eine Facharbeit geschrieben: über den Tod Benno Ohnesorgs. Sie hat eine 1 bekommen.

Uwe Soukup

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