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20 Jahre Mauerfall: Die Bankrotterklärung

Im Herbst 1989 ist die DDR auch wirtschaftlich am Ende – Planungschef Schürer legt dem SED-Politbüro ungeschminkte Fakten vor.

Von Matthias Schlegel

Berlin - Es war die Stunde der Wahrheit – und der Ernüchterung. Erich Honecker war zwei Wochen zuvor im SED-Politbüro als Partei- und Staatschef entmachtet worden. Egon Krenz hatte seinen Platz eingenommen, um für die SED zu retten, was nicht zu retten war. Denn diesem Staat liefen nicht nur die Bürger weg, die DDR war im Herbst 1989 auch ökonomisch am Ende.

Das wurde den zwei Dutzend Mitgliedern des Führungszirkels der Partei an jenem 30. Oktober 1989 schlagartig klar. „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen.“ Das war ein Kernsatz der schonungslosen Analyse der Situation des Landes. Kein Geringerer als der Chef der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer hatte unter Beteiligung weiterer führender Wirtschaftsexperten, darunter KoKo- Chef und Stasi-Obrist Alexander Schalck- Golodkowski, das Papier ausgearbeitet und es dem Politbüro an diesem Tag vorgelegt. Die Zustandsbeschreibung einschließlich gebotener Schlussfolgerungen war von Krenz angefordert worden.

Was da vor ihnen auf dem Tisch lag, zerstörte nicht nur die letzten Illusionen der Altherrenriege im Politbüro. Es öffnete auch im Westen manchen Träumern die Augen. Denn die Mär von der DDR als einer der zehn stärksten Industrienationen der Welt hatte auch in der Bundesrepublik und in der westlichen Welt insgesamt viele Anhänger und Nacherzähler gefunden. Dem obersten Planwirtschaftler und treuen Parteisoldaten Schürer, der das Fiasko lange vorausgesehen hatte und bereits im Februar 1989 Krenz von der Notwendigkeit des Sturzes von Honecker überzeugen wollte, blieb die Verkündung der finalen Bilanz vorbehalten. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin schreibt in seiner vorzüglichen Bestandsaufnahme „Die veränderte Republik“ von 2006, dass sich die DDR „auf dem Niveau eines europäischen Schwellenlandes befand, etwa wie Portugal oder Griechenland“.

In jenen Oktobertagen 1989 freilich war das die Schwelle zwischen Sein und Nichtsein: „Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40 Prozent hinter der BRD zurück“, heißt es in dem Schürer-Papier. Es sei mehr verbraucht worden, als in eigener Produktion erwirtschaftet wurde. Die Fixierung auf den Konsum statt auf Investitionen hatte die wirtschaftliche Substanz ausgezehrt, das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm ungeheure Ressourcen gebunden, die sozialen Segnungen hatten die Ausgaben explodieren lassen. Im Fünfjahrplan 1986 bis 1990 wurde der Export mit 14 Milliarden Valutamark unter- und der Import mit 15 Milliarden Valutamark überschritten. Insgesamt hatte sich die Verschuldung gegenüber dem NSW, dem nichtsozialistischen Währungsgebiet, von zwei Milliarden Valutamark im Jahr 1970 auf 49 Milliarden Valutamark 1989 erhöht.

Im internationalen Maßstab ist das für die Kreditwürdigkeit eines Landes ein vernichtender Befund. Denn üblicherweise soll die Schuldendienstrate – das Verhältnis von Export zu den im gleichen Jahr fälligen Kreditrückzahlungen und Zinsen – nicht mehr als 25 Prozent betragen. Die DDR aber hatte eine Schuldendienstrate von 150 Prozent. Die Konsequenzen stehen dem Verfasser des Papiers deutlich vor Augen: Die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit würde eine Umschuldung notwendig machen, „bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat“.

Ein Horrorszenario für die Genossen. Damit es nicht eintritt, plädiert Schürer für eine umfassende Wirtschaftsreform. Dabei soll die rigide Kombinatsstruktur aufgebrochen, die vernichtende Steuerpolitik für Handwerk und Gewerbe abgeschafft, die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung erhöht werden. Vor allem aber sei es „für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit 1991 unerlässlich, zum gegebenen Zeitpunkt mit der Regierung der BRD über Finanzkredite in Höhe von zwei bis drei Milliarden Valutamark über bisherige Kreditlinien hinaus zu verhandeln“.

Um der Bundesrepublik den „ernsthaften Willen“ der DDR zu Reformen deutlich zu machen, schreibt Schürer einen Satz in das Papier, der die ganze Not verdeutlicht – aber in der vom Politbüro beschlossenen Endfassung nicht mehr auftaucht: Man wolle der Bundesrepublik erklären, dass durch immer engere „Zusammenarbeit DDR–BRD noch in diesem Jahrhundert solche Bedingungen geschaffen werden könnten, die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig zu machen“. Die Streichung war unnötig. Die Geschichte ging zehn Tage später über diese Verheißung mit Macht hinweg.

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