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25 Jahre später: Cornelia Eggert lehnt am Zaun der ehemaligen Botschaft der BRD in Warschau.

© Agnieszka Hreczuk

20 Jahre Mauerfall - die Rolle Polens: Ihre Warschauer Brücke

Alle reden über Prag! Doch 1989 konnten auch 6000 DDR-Bürger über Polen in den Westen reisen. Cornelia Eggert saß in dem ersten Zug, der Warschau verließ. Und kehrte jetzt zurück.

Aus ihrem Hotelzimmerfenster schaut sie auf Warschau. Sieht gegenüber ein neues Wohnhaus und unten auf der Straße einen Stau, und als sie in der Ferne den Kulturpalast ausmacht, lächelt sie. Endlich etwas Vertrautes.

In der Reisetasche klingelt ihr Handy. Hektisch stürzt sie auf die zu, wühlt das Gerät hervor. „Cornelia Eggert. Hallo ...?“

Am anderen Ende ist ein Unternehmen aus Lübeck, bei dem sie sich beworben hat. Der Anruf ist die Zusage. Ob sie gleich nächste Woche anfangen könne? „Kein Problem“, sagt Cornelia Eggert.

Aufgeregt läuft sie durch ihr Zimmer, macht im Kopf einen Reiseplan. Wie kommt man mit dem Zug von Warschau nach Lübeck? Wie findet sie am schnellsten eine Wohnung? Plötzlich bleibt sie stehen, denn ihr fällt etwas auf: Wie vor 25 Jahren wird sie nun zum zweiten Mal aus Warschau in den Westen fahren, um ein neues Leben anzufangen. Kann das wahr sein? Und wie anders diesmal alles ist!

Am 1. Oktober 1989 ist die damals 22-jährige Ostberlinerin Cornelia Eggert zum ersten Mal in Polens Hauptstadt in einen Zug gestiegen, um in den Westen zu fahren. Zusammen mit hunderten weiteren DDR-Flüchtlingen voller Hoffnung, aber auch voller Angst vor dem, was kommt, vor der Stasi und davor, dass sie im letzten Moment noch aufgehalten werden könnten.

Die Flüchtlinge wurde in der ganzen Stadt untergebracht, Tumulte blieben aus

Cornelia Eggert trifft sich vor dem Hotel mit zwei weiteren Flüchtlingen von damals, Saskia Ringseis und Thorsten Heinhold. Die drei haben einen Termin. Angenehm warm ist es in der Septembersonne. So sei es auch damals gewesen, könnte Cornelia Eggert schwören. Dann ziehen sie los, durch die Straßen der Stadt, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat – und in der sie aber kaum etwas wiedererkennen.

„Wir waren nicht in Warschau, sondern in der Botschaft“, sagt Cornelia Eggert. Ambasada RFN, zur Botschaft der BRD, danach haben die Flüchtlinge gefragt, nicht nach der Altstadt, der Parkanlage, dem Königlichen Palast. Allein der Kulturpalast war ein Orientierungspunkt, der 230 Meter hohe sozialistische Protzbau neben dem Bahnhof. Und die Weichsel, denn über die Weichsel ist man zur Botschaft gegangen oder gefahren. In die Ulica Dabrowiecka, Dabrowiecka-Straße, wo man vor der Botschaft saß und wartete. Dann die Unterkunft, wo man untergebracht wurde.

Cornelia Eggert hat ein Foto dabei. Junge Leute in altmodischen Blusen und farbigen Sportanzügen, die sie vom Deutschen Roten Kreuz bekommen hatten, vor einem Gebäude. In der zweite Reihe ein langhaariges junges Mädchen mit breitem Lächeln und in knallroter Hose. Ein Lächeln taucht auch jetzt auf den Lippen von Cornelia Eggert auf. „Das bin ich“, sagt sie. Ihre Haare sind heute kürzer und dunkler, der Mut zu fröhlichen Farben ist geblieben. Das Haus hinter ihnen ist das Priesterseminar. Damals war es neu und noch leer, denn die Seminaristen gab es noch nicht. Also brachte man dort Flüchtlinge unter. Zwei Wochen lang wohnten Cornelia und 500 weitere DDR-Bürger in dem Haus.

Marek Prawda, der spätere polnische Botschafter in Berlin, war 1989 Helfer der Flüchtlinge

In Deutschland sind derzeit – wie immer an runden Jahrestagen – die Bilder von DDR-Flüchtlingen in Prag zu sehen. Immer nur Prag! Manchmal nervt das die „Warschauer Flüchtlinge“. Das sei einfach nicht richtig, sagt Cornelia Eggert.

Die drei nehmen den Weg, den sie von damals kennen: vom Bahnhof geradeaus, über die Brücke und direkt hinter dem Weichselufer rechts, dann links und dann wieder rechts. Die Bäume sind gewachsen, bemerkt Cornelia Eggert. Bei Thorsten Heinhold kochen die Emotionen hoch. „Déjà vu“, sagt er und korrigiert gleich. Nein, dieses Mal ohne Angst. Schöne Vorkriegsvillen sehen sie und dann in der Dabrowiecka-Straße 30 das Haus, in dem die Botschaft war. Heute sitzt darin ein Pizzalieferservice.

Auf der Straße stehen, als sie ankommen, viele Leute. Der deutsche Botschafter wird hier gleich eine Tafel enthüllen, die an die Flüchtlinge – es waren insgesamt rund 6000 und damit genauso viele, wie über die Botschaft in Tschechien flohen – und die Helfer erinnert. In der Menge ist auch Marek Prawda. Er war von 2006 bis 2012 polnischer Botschafter in Berlin, und früher, im Wendeherbst ’89, Mitglied der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Er koordinierte die Hilfsaktionen für die Flüchtlinge. „Na ja, man redet nicht über Polen, weil hier keine Flüchtlinge niedergeknüppelt wurden“, Marek Prawda nimmt es gelassen.

Während die Flüchtlinge auf dem Prager Botschaftsgelände in prekären Verhältnissen kampierten, vom Zaun heruntergerissen und nur von der Botschaft versorgt wurden, wartete auf die Flüchtlinge in Polen eine angenehme Unterbringung, oft in Urlaubsheimen. Man habe sich still und leise um die Flüchtlinge gekümmert, um die DDR-Führung nicht aufzuschrecken, sagt Prawda. „Wir hatten Angst, dass, wenn wir etwas Falsches tun würden, alles zusammenfallen könnte.“ Dass sie ihrer neu gewählten demokratischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki Probleme bereiten würden.

Dann kam der Satz, der bei den Flüchtlingen Jubel auslöste - es war wie in Prag

Im Spätsommer 1989 sammelten sich die ersten DDR-Bürger vor der westdeutschen Botschaft.
Im Spätsommer 1989 sammelten sich die ersten DDR-Bürger vor der westdeutschen Botschaft.

© dpa

Und so halfen auch die polnischen Bürger zahlreich mit bei der Versorgung der Flüchtlinge. Iwona Szymanik zum Beispiel. Sie hat damals mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in einem Einfamilienhaus direkt neben der Botschaft gewohnt. Von ihrem Garten aus kletterten damals Leute über den Zaun. Einmal haben sie eine ganze Familie gesehen. Nachdem das Gepäck und das Kind auf die andere Seite gehoben waren, versuchten einige Männer, eine ältere, stark übergewichtige Frau auf einem Holzbrett über den Zaun zu schieben, erinnert sich Iwona. Sie hat mit ihrer Schwiegermutter Obst und Nüsse aus dem eigenen Garten verteilt, Butterbrote und Tee vorbereitet und den Kindern Bonbons geschenkt.

Ja, Cornelia Eggert erinnert sich. Als sie vor der Botschaft wartete, hat sie Polen mit Butterbroten gesehen. Warum weiß sie bloß nicht mehr Details von damals? Fast schämt sie sich deswegen, als sie Iwona Szymanik 25 Jahre später gegenübersteht. Wo es ihr doch so wichtig ist, danke zu sagen. Für die Zeichen der Sympathie, die sie damals gebraucht und bekommen haben. Für den Taxifahrer, der sie kostenlos zur Botschaft brachte, oder eine Frau, die Flüchtlinge zu sich einlud. „Sich so richtig bedanken ging damals unter“, sagt Cornelia Eggert. „Es waren einfach zu viele Leute, zu viele Informationen, zu viele Eindrücke.“ Dazu die Sprachbarriere. Die Angst vor der Stasi, dass sie sogar hier Leute entführen kann. Angst um die Familie, die in der DDR geblieben ist. Das könne man sich heute alles gar nicht mehr vorstellen.

Die Polen verteilten Obst und Brote, luden zu sich nach Hause ein

Die ersten Flüchtlinge hatten es am schwersten. Diejenigen, die später im Oktober flüchteten, wussten von den Zügen in den Westen. Diejenigen, die vor dem 30. September geflüchtet waren, wussten gar nichts. Die Zukunft war ungewiss, die Vergangenheit abgehackt. Sie ließen alles hinter sich, nahmen kaum etwas mit, um nicht aufzufallen. „Einen Pulli, eine Hose, zwei Blusen, ein Buch und etwas Kaffee und Tee“, zählt Cornelia Eggert auf, was sie in ihrer weinroten Reisetasche mitgenommen hat. Nur das, was man für einen Ausflug nehmen würde – wenn man vorhat, zurückzukommen.

Iwona Szymanik lächelt voller Verständnis. „Es ging alles so schnell, und Sie alle hier haben so viele andere Probleme gehabt“, sagt sie. Ihre Hilfe damals, das seien doch nur Kleinigkeiten gewesen. Gern geschehen und nichts zu danken.

Auch Jürgen Sudhoff ist zum Jubiläumstag nach Warschau gekommen. Er war 1989 Staatssekretär im Auswärtigen Amt und quasi Sicherheitsgarant für die Zugfahrten der DDR-Flüchtlinge. „Es war ganz anders, hier in Warschau mit den Politikern zu reden als in Prag, mit diesen Betonköpfen“, sagt er. Jürgen Sudhoff und Cornelia Eggert schütteln sich die Hand. Mittlerweile kennen sie sich gut, damals war sie nur eine von vielen, die am 30. September in der Botschaft vor ihm standen.

Staatssekretär Sudhoff fuhr mit im ersten Zug, der in den Westen ging

„Wir fahren noch heute zusammen in die Bundesrepublik“, sagte er da. Cornelia Eggert hat diese Worte nie vergessen. Und nicht den Jubel, der danach ausbrach. Und nicht die Stille, als Sudhoff hinzufügte, dass sie mit dem Zug fahren würden. Durch die DDR. Er würde mitfahren, sagte er ihnen. Zur Sicherheit. Und alle, die einstiegen, würden erst in der westdeutschen Grenzstadt Helmstedt in Niedersachsen wieder aussteigen. Er sagte noch, das weiß Cornelia bis heute, dass die Flüchtlinge alle Wodkaflaschen wegstecken und mit dem Jubeln im Zug warten sollten. Man wolle die Stasi nicht provozieren. „Nach der Ankunft können wir gleich zum Oktoberfest gehen“, habe er gesagt. Cornelia Eggert hat Jürgen Sudhoff später im Zug hinter den Stasi-Mitarbeitern stehen sehen, als sie die Flüchtlinge kontrollierten. Was für eine Zeit das war. So gegenwärtig einerseits, aber Ewigkeiten her, wenn sie sich anschauen, was seither geschehen ist.

Dass sie flüchten wollte, hat sie nur ihren Eltern gesagt, kurz vor der Abreise. Gefallen hat es ihnen wohl nicht, doch überrascht schienen sie auch nicht gewesen zu sein. Ihre Mutter hatte schon einen Monat zuvor, als Cornelia in Polen auf einer Erkundungsreise war, befürchtet, dass sie nicht zurückkommen würde.

Warum sie überhaupt wegwollten? „Es ging einfach nicht mehr“, sagt Cornelia Eggert kurz. Als sie noch die Schule besuchte, wurde ihr die Zusammenarbeit mit der Stasi angeboten. Sie lehnte ab. Das verzieh die Stasi nicht. Aus einer Musikschule wurde sie rausgeschmissen. Trotz gutem Abitur wurde sie nicht zum Studium zugelassen. Trotz erfolgreicher Vorstellungsgespräche hat sie keinen Job bekommen. Um nicht als unsozial zu gelten, arbeitete sie als Putzfrau.

So viel gewonnen, so viel verloren - was aus den Flüchtlingen von damals wurde

Helmstedt, 1. Oktober 1989: Der erste Zug aus Warschau trifft ein, für die DDR-Flüchtlinge ist die bange Fahrt durch die DDR zu Ende.
Helmstedt, 1. Oktober 1989: Der erste Zug aus Warschau trifft ein, für die DDR-Flüchtlinge ist die bange Fahrt durch die DDR zu Ende.

© dpa

Und die anderen? Der damals 23-jährige Thorsten Heinhold aus Karl-Marx- Stadt, heute Chemnitz, sollte in die Armee und hatte Angst, er würde auf seine Landsleute schießen müssen. Saskia Ringseis aus Freiberg war noch ein Kind, als sie mit ihren Eltern und Brüdern floh, weil ihr Vater Angst hatte, er könnte festgenommen werden. Heinhold ist nach 14 Monaten zurückgegangen. Saskia Ringseis ist in Nürnberg geblieben, wo sie groß geworden ist.

Einige Flüchtlinge hätten eine unrealistische Vorstellung von der Zukunft in der BRD gehabt, sagt Cornelia Eggert. Sie war realistisch, so dachte sie zumindest. Sie weiß, dass man im Westen seinen Träumen nachgehen kann, aber dass man daran hart arbeiten muss. Im Priesterseminar liest sie gegen die Langeweile ein Buch, das sie von einem westdeutschen Journalisten bekommen hat: über das Steuersystem in der BRD. Das habe sich als sehr hilfreich erwiesen, sagt sie.

Von Helmstedt aus wurden die Flüchtlinge mit dem Bus zu einem Aufnahmelager gefahren. Während der Fahrt hielt der Bus an einer Autobahnraststätte. Da bekam Cornelia Eggert plötzlich Angst, auf die Toilette zu gehen. „Ich habe viele westdeutsche Krimis gesehen, und da wurde man immer auf der Toilette in einer Raststätte überfallen“, sagt sie und muss heute darüber immer wieder lachen. „Ich hatte in dem Moment nur diese Bilder im Kopf.“

Cornelia Eggert ging 1992 zurück nach Ost-Berlin - und fühlte sich dort fremd

Wenige Wochen später fiel die Mauer. Sie bedauere nicht, dass sie nicht abgewartet habe, sagt Cornelia Eggert. „Es wäre wohl ruhiger gewesen, besser vorbereitet, nicht so stressig“, gibt sie zu. Aber es war für sie damals der Moment, an dem sie es keinen Tag länger im Osten aushalten konnte. „Ich habe in der BRD das gefunden, was ich mir gewünscht habe.“ Freiheit, eine Möglichkeit, ihr Leben selbst zu gestalten, unabhängig von Religion oder Parteibuch.

„Journalismusstudium in Bayern, eine Stelle beim MDR, dann eine Schulung zur Kosmetikerin, ein BWL- und Jura-Studium, eine Arbeit im PR-Bereich, anschließend Managerin, dann noch Leiterin von demokratischen Projekten beim Landtag ...“, Cornelia Eggert fällt es schwer, alles aufzuzählen, was sie im neuen Leben, dem Leben nach Warschau, gemacht hat. „Ich habe versucht, alles nachzuholen.“ Sie lernte Sprachen, bereiste die Welt. Sie nutzt jede Chance, die sich bot. Es gab so viel, was sie in der DDR nicht erleben durfte. „Hätte ich mal gebremst, wäre ich tot“, sagt sie.

In den Osten zog sie drei Jahre nach der Flucht zurück. Nach dem Journalistikstudium in Bayern bekam sie das Jobangebot vom MDR in Dresden. Sie pendelte zwischen Dresden und Berlin, der Stadt, aus der sie damals geflüchtet war. Es sei aber keine Rückkehr nach Hause gewesen. „Ich habe mich hier manchmal wie eine Außerirdische gefühlt, so fremd“, erinnert sie sich. Es habe sich so wenig geändert. „Die Denk- und Verhaltensweise, das war immer noch dasselbe.“

An der ehemaligen Botschaft wird eine Erinnerungstafel enthüllt

Als sie zurückkam, war sie für viele nun ein „Wessi“, eine, die nicht dazugehört. Sie wechselte von Dresden-Berlin nach Schwerin. Als sie sich wieder um einen Job im Westen bewarb, war sie da wieder die „Fremde“, die aus der Ecke kam, „wo Straßen mit unseren Steuergeldern gebaut werden“, so formulierte es einmal einer ihrer Gesprächspartner.

Die Erinnerungstafel ist enthüllt worden, dann wurden noch ehemalige Unterkünfte besichtigt, und spät erst ist Cornelia Eggert zurück im Hotel. In ihrem Zimmer riecht es leicht nach frisch gemahlenem Pfeffer. Eine Pfeffermühle steht auf dem Tisch. Eine kleine Reiseausführung. Cornelia hat sie extra besorgt, damit sie die immer dabeihaben kann. Den Pfeffer benutze sie beim Frühstück, erklärt sie. Aber da ist noch mehr. Der Geruch, der an Kindheit erinnert. An Großmutter, Geborgenheit, Gemütlichkeit. Sobald sie die Mühle auspackt und den Pfeffer riecht, fühlt sie sich wohl. Ein Stück ... nein, das Wort Heimat verwendet Cornelia Eggert ungern. Der Ort, das Haus, die Wurzel? Es gibt Orte, wo sie sich wohlfühlt, mit Menschen, die „genauso wie ich ticken“, sagt sie. Egal wo.

Kurz nach dem Besuch in Warschau ist Cornelia Egert nach Lübeck umgezogen. „Es ist toll, so viel Arbeit, alles muss neu gestaltet werden“, schreibt sie. Die Kisten seien noch nicht ausgepackt. Aber auf dem Tisch stehe ihre Pfeffermühle.

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