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Die 70-Cent-Sonderbriefmarke mit dem Konterfei von Karl Marx.

© Bernd Weißbrod/dpa

200 Jahre Karl Marx: "Der 200-Jährige hat uns verblüffend viel zu sagen"

Was Karl Marx heute für Deutschland bedeuten kann: der Bundespräsident über die willkommenen Widersprüche eines großen deutschen Denkers. Ein Gastbeitrag.

Was haben wir über Karl Marx zu sagen? Ich will mit dieser Feststellung beginnen: Karl Marx war, in all seiner Widersprüchlichkeit, jedenfalls das: ein großer deutscher Denker.

Gewaltig ist das Werk, das er hinterlassen hat. Gewaltig will ich auch seinen Geltungsanspruch nennen, die Absolutheitsambition seiner Gedankenwelt. Marx war ein kategorischer Denker, und seine Kategorien waren sehr starr. Marx war vernichtend in seiner Kritik an Ideen und noch vielmehr an Personen. Immer wieder blitzen die Momente radikalen Eiferns auf, in einer Weise, die heutige Leser befremdet – die aber jahrzehntelang, wie etwa die dröhnende Fanfare von der „revolutionären Diktatur des Proletariats“, im Osten unseres Landes in Dauerschleife zu hören waren und die als Rechtfertigung für Gängelung und die kleinen und großen Beschränkungen von Freiheit dienten.

Gewaltig ist das Werk von Karl Marx - und gewaltig sind die Folgen

Und doch hat alles Eifern, alle Heftigkeit dieses Autors eine innere Triebkraft, und die liegt in den Verhältnissen seiner Zeit: Es geht ihm um die Überwindung des massenhaften Elends, um die Befreiung aus Armut und Bevormundung, aus der eisernen Hand des Obrigkeitsstaats. Sein Werk ist durchzogen von einem leidenschaftlichen Humanismus: Da gibt es Appelle für die Pressefreiheit, für humane Arbeitsbedingungen und den Acht-Stunden-Tag, für die Bildung der arbeitenden Schichten, für die Wertschätzung von Frauen im Freiheitskampf bis hin zum Plädoyer für Umweltschutz. Es finden sich sogar Freiheitselogen, die bis heute nicht sprachmächtiger und bewegender beschreiben könnten, was eine auf den Prinzipien der europäischen Aufklärung gegründete Gesellschaftsordnung ausmacht.

Allein: Gewaltig ist nicht nur sein Werk, sondern gewaltig sind seine Folgen. Auch wenn wir sein Diktum „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ noch im Kopf haben mögen, so ist es für uns, die wir zurückblicken, mit einer schnell dahingesagten Trennung von Marx und Marxismus, dem Denker und seiner Wirkung, nicht getan. Mir drängt sich das Wort Verantwortung auf. In der „Verantwortung“ steckt ja das „Wort“, und mit dem Wort wollte er seine Nachwelt prägen und hat sie geprägt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht im Schloss Bellevue vor Beginn der Veranstaltung "200 Jahre Karl Marx- Podiumsgespräch über Geschichte und Aktualität".
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht im Schloss Bellevue vor Beginn der Veranstaltung "200 Jahre Karl Marx- Podiumsgespräch über Geschichte und Aktualität".

© Soeren Stache/dpa

Bleibt die Frage: Wie weit ist er, der Weg von der Wortgewalt zur tätlichen Gewalt, vom glühenden Gedanken zum fanatischen Handeln? Wir wären schlecht beraten, denen das Feld der Deutung zu überlassen, die ihn ideologisch vereinnahmen oder absichtsvoll missverstehen. Das ist in der Geschichte schon zu oft mit Marx passiert. Wenn wir dem entgegenwirken, dann muss die notwendige Aufarbeitung des Marxismus einer Offenheit für Marx nicht entgegenstehen. Und diese Offenheit wünsche ich uns. Ich jedenfalls finde: Der 200-Jährige hat uns verblüffend viel zu sagen über unsere Zeit.

In diesen Tagen ist viel zu lesen über Karl Marx: Über Marx, den Analysten der Konjunktur, von Krisen und insbesondere Finanzkrisen, wie sie die Weltwirtschaft vor zehn Jahren an den Abgrund getrieben haben. Über Marx und die Gleichzeitigkeit von großen ökonomischen Erkenntnissen und folgenreichen Irrtümern. Über Marx, den Anatomen des Kapitals, der galoppierenden Ungleichheit. Und nicht zuletzt über den bestechenden Prognostiker der Globalisierung.

Für mich ist vielleicht der spannendste aller dieser „Teil-Marxe“ der Vordenker der technologischen Entwicklung

Für mich ist vielleicht der spannendste aller dieser „Teil-Marxe“ der Vordenker der technologischen Entwicklung. Karl Marx hat die Grundbegriffe des Industriezeitalters geprägt. Kann er uns auch noch die Stichworte für die nächste Epoche liefern?

Natürlich waren „Big Data“, „Artifical Intelligence“ oder „Social Media“ keine Kategorien des 19. Jahrhunderts. Aber Marx’sche Zukunftsfragen stellen sich heute drängender denn je: Entfremdung oder Befreiung? Mehr Überwachung durch Big Data? Mehr Markt- und Machtkonzentration durch die „Big Five“ der Datenökonomie – oder mehr Chancengleichheit dank digitaler, frei zugänglicher Ideen? Mehr Fremdbestimmung, wenn der Algorithmus meine Interessen und Vorlieben besser kennt als ich selbst? Oder mehr Selbstbestimmung, wenn Roboter uns von körperlicher Arbeit befreien?

Lesen wir einen Marx-Satz wie diesen: „Da der Arbeiter zur Maschine herabgesunken ist, kann ihm die Maschine als Konkurrent gegenübertreten“, dann könnten wir heute nahtlos anfügen: Wenn die Maschine zum Arbeiter aufsteigt, kann sie das erst recht. Sind wir also zurück beim Historischen Materialismus, beim Zauberlehrling Mensch, dem seine Erfindung entglitten ist?

Ich halte nichts von deterministischen Zukunftsentwürfen. Dieser Moment muss nicht in neue Abhängigkeit führen, sondern es öffnen sich ebenso Wege zu mehr Selbstbestimmung und weniger Entfremdung, zu mehr Teilhabe und weniger Ungleichheit. Ob das gelingt, dafür ist eine Größe entscheidend, der Marx stets zu wenig zugetraut hat: die Demokratie nämlich und das Selbstbewusstsein, mit dem wir uns als Demokraten in einer Sozialen Marktwirtschaft die Gestaltung unserer Zukunft zutrauen! Marx sagt: „Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt.“ Ich finde: Das Zeitalter von Robotern und Künstlichen Intelligenzen ist ein guter Moment, um Marx das Gegenteil zu beweisen.

Am Ende bleibt das dritte der eingangs genannten Attribute, eines, das mir besonders wichtig erscheint: Ja, er war ein deutscher Denker. Karl Marx ist ohne deutsche Geschichte nicht denkbar und deutsche Geschichte wohl nicht ohne ihn. Karl Marx ist nicht denkbar ohne den Preußischen Obrigkeitsstaat und Bismarcks eiserne Hand, ohne die Freiheitsluft des Vormärz, ohne das Hambacher Fest und die zertretenen Hoffnungen der Revolution. Er ist nicht denkbar ohne das menschliche Elend der frühen Industrialisierung und ohne die Armut auf dem Land. Er ist auch nicht denkbar ohne die wechselvolle Geschichte des deutschen Judentums, ohne seine Absage an die eigene Herkunft, ohne sein Hadern und Eifern gegen das Judentum, in dessen schärfsten Ausfällen die späteren deutschen Dämonen schauerlich vorausklingen. Marx ist nicht denkbar ohne seinen Internationalismus, seinen weltgewandten Blick. Er ist nicht denkbar ohne Flucht und Vertreibung aus Deutschland, den Verlust der Staatsangehörigkeit. Kurz: Marx ist nicht denkbar ohne sein Leiden an Deutschland.

Gerade in seiner Widersprüchlichkeit sollten wir Karl Marx als großen deutschen Denker sehen

Gerade in dieser Widersprüchlichkeit sollten wir ihn als großen deutschen Denker sehen. Denn wir sind ein Land, für das es geradezu identitätsstiftend ist, die Widersprüche unserer Geschichte anzunehmen. Diese Ambiguität gibt es im Falle Marx vielleicht in besonderer Weise im Osten unseres Landes. Ich habe Ostdeutsche getroffen, die beides sind: froh, ihn los zu sein, den Marx, mit dem die ganze Unfreiheit des SED-Regimes verbrämt wurde. Und doch zugleich hoffend, dass ein anderer Marx noch viel zu sagen hat: über die Gefahren eines ungezügelten Kapitalismus und über die Möglichkeiten einer gerechteren und humaneren Ordnung.

Ich glaube: Wir Deutschen im Jahr 2018 sollten Karl Marx weder überhöhen noch aus unserer Geschichte verbannen. Wir müssen uns vor Marx nicht fürchten, noch müssen wir ihm goldene Statuen bauen. Marx soll streitbar bleiben.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die der Bundespräsident aus Anlass des 200. Geburtstags von Karl Marx im Schloss Bellevue gehalten hat. Die vollständige Rede finden Sie hier.

Frank-Walter Steinmeier

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