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1993 kamen fünf türkische Frauen in Solingen durch Brandstiftung ums Leben.

© AFP/dpa/Franz-Peter Tschauner

25 Jahre Anschlag von Solingen: Auf der Strecke geblieben ist der Anstand

1993 sterben fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen. Heute haben sich auch solche der Flüchtlingsgegnerschaft angeschlossen, die gegen Antisemitismus, Frauenverachtung, Religiosität angehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Worte haben Folgen, auf Worte folgen Taten. Das geschieht oft nicht direkt. Aber dass die öffentliche Rede auch ein öffentliches Klima prägt, ist klar. Wenn nun bereits der Verdacht entsteht, es solle eine „political correctness“ postuliert werden, deutet der Reflex auf einen Wunsch hin – den nach Verantwortungslosigkeit. Sagen, was ist, lautet schließlich die Devise, polemisch, persönlich, rücksichtslos. Verbrämt wird das manchmal als Kampf für die Meinungsfreiheit. Je lauter, desto freier. Je böser, desto unangepasster. Je bissiger, desto ehrlicher. Tabulos, rebellisch, tollkühn – so wollen wir sein.

Hitzig war die Debatte auch vor 25 Jahren. Damals wurden in Solingen fünf junge Menschen verbrannt, zwei Frauen und drei Mädchen. Verübt worden war der Brandanschlag von vier Rechtsradikalen, in dem Haus lebte die Großfamilie Genc aus der Türkei. Dem Anschlag vorausgegangen waren die ausländerfeindlichen Verbrechen von Rostock, Hoyerswerda, Mölln. Wenige Tage zuvor war, nach langem Streit, das verschärfte Asylrecht in Kraft getreten.

Es war eine turbulente Zeit, geprägt von zerfallender Sowjetunion, den Wirren der Wiedervereinigung, Balkankrieg. Die Zahl der Asylbewerber stieg sprunghaft an. Es kam zu An- und Übergriffen, zwischen Flüchtlingen und türkischen Familien, die schon lange in Deutschland lebten, wurde dabei nicht unterschieden. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, stand im Grundgesetz. Es war eine Maxime, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte leidenschaftlich verteidigt und großzügig ausgelegt wurde. Die Einsicht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt eine Versöhnung von Ideal und Pragmatismus verlangte, setzte sich nur mühsam durch.

Wieder wirken die Behörden überfordert

Die Parallelen zu heute sind offenkundig. Wieder sind in kurzer Zeit Hunderttausende Zufluchtsuchende gekommen. Wieder wirken die Behörden überfordert. Wieder wird gestritten über Herkunft, Integration, Belastbarkeit, Asylrechtsmissbrauch, sichere Herkunftsstaaten, Kosten. Wieder stehen sich zwei deutsche Identitätsbegriffe gegenüber. Hier die Ableitung aus Heimat, Nachbarschaft, Gewohntem, dort die Ableitung aus Humanität, geschichtlichem Auftrag, Wir-schaffen-das-Optimismus.

Doch eines ist diesmal anders. Vor 25 Jahren stand der Geist links. Das Gros der Intellektuellen bekämpfte die Änderung des Asylrechts. Heute ist das Bild eher unübersichtlich. Der Flüchtlingsgegnerschaft angeschlossen haben sich auch solche, die gegen Antisemitismus, Frauenverachtung, Religiosität angehen. Das klingt honorig und liberal. Aber es kann auch dazu führen, die Islam- und Ausländerfeindschaft gewissermaßen zu legitimieren. Das wäre fatal.

An der Sprache sollt ihr sie erkennen. Das wiederum galt damals so, wie es heute gilt. Etwa wenn von „Kopftuchmädchen“ die Rede ist oder die Gefahr einer „islamischen Invasion“ beschworen wird. Etwa wenn der Begriff „Jude“ als Schimpfwort gebraucht oder der Staat Israel als „zionistisches Gebilde“ bezeichnet wird. Etwa wenn AfD-Wähler automatisch als Rassisten oder besorgte Bürger als verkappte Rassisten verunglimpft werden. Und längst wird das Echo der sprachlichen Hemmungslosigkeit durch schamlose Politiker verstärkt. Donald Trump, Viktor Orban, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan. Sie haben erkannt, dass Polarisierung fasziniert. Klare Kante, endlich kein Politsprech mehr.

Auf der Strecke geblieben ist dabei der Anstand. Das Wörterbuch der Soziologie definiert das Wort als „selbstverständlich empfundener Maßstab“ für ein gutes oder richtiges Verhalten. Der Schriftsteller Axel Hacke hat diese Eigenschaft klug rehabilitiert. Sein im vergangenen Jahr veröffentlichtes Buch heißt „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“. Worte haben Folgen, auf Worte folgen Taten. Man muss nicht alles aussprechen, was man aussprechen darf. Auch das ist eine Lehre aus Solingen, eine von vielen.

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