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Eine Parteifahne der Grünen vor dem Atomkraftwerk Brokdorf während einer auf dem Deich abgehaltenen Fraktionssitzung der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag.

© Stefan Simonsen/DAPD

35 Jahre Reaktorunglück: Tschernobyl bestimmt die Politik in Deutschland bis heute

Das Erbe der Katastrophe ist nicht nur im politischen Fundament der Grünen verankert. Es wird bald noch eine größere Rolle spielen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jakob Schlandt

Auf einmal lauert draußen eine Gefahr, die man nicht sehen, nicht hören, nicht riechen kann. Was ist noch sicher, was nicht? Gesellschaftlich rückt die Auseinandersetzung mit Bedrohungen, deren Potenzial nicht genau kalkuliert werden kann, in den Mittelpunkt. Das erleben wir seit gut einem Jahr mit der Pandemie – und vor 35 Jahren schon einmal, wenn auch ganz anders.

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Geräumte Sandkästen, Pilzsammelverbot, bei manchen auch Milchpulversäcke im Keller: Zum 35. Mal jährt sich am Montag die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Die Parallelen zur Pandemie sollte man nicht überstrapazieren. Aber so wie Corona unsere Gesellschaft verändern wird, hat auch Tschernobyl Spuren hinterlassen.

Atomkritische Proteste gab es seit etwa Mitte der 70er-Jahre. Und dass Deutschland bis Ende 2022 alle Kernkraftwerke stillgelegt haben wird, liegt vor allem an der Kernschmelze der Reaktoren im japanischen Fukushima vor zehn Jahren.

Dennoch: Die politische Halbwertszeit von Tschernobyl ist lang. Die SPD war danach durchgängig Anti-Atom-Partei. „Ich glaube, nach Tschernobyl ist nichts mehr so, wie es vorher war“, sagte Hans-Jochen Vogel 1986 im Bundestag. Dass die grüne Kanzlerkandidatin für die Bundestagswahl, Annalena Baerbock, berichtet, sie sei als Kind von der Anti-Atom-Bewegung und dem Engagement ihrer Eltern geprägt worden, ist keine Einzelerfahrung.

Tschernobyl war eine Kollektiverfahrung, die bis heute wirkt

Ob beteiligt oder nicht, zustimmend oder ablehnend: In den 80er Jahren rückte der Umweltschutz vom Kleinen ins Große. Tschernobyl war dabei das prägende Ereignis, eine Kollektiverfahrung, die bis heute wirkt. Ohne den Schock von Tschernobyl und die in der linken Hälfte der Gesellschaft entschlossen vorangetriebene Atomausstiegspolitik wären die Entwicklung und der Ausbau der erneuerbaren Energien im Deutschland der 80er und 90er Jahren nicht so vorangebracht worden.

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Aber warum geschah das (fast) nur in Deutschland? Warum setzen Briten, Schweden, Franzosen und Tschechen auf die Kernkraft, und wenn sie dabei zögern, dann hauptsächlich wegen der exorbitanten Kosten neuer Meiler?

Eine einfache Erklärung fällt schwer. Vermutlich haben sich hierzulande die lange Tradition eines romantisch-bewahrenden Verhältnisses zur Natur und die Sorge vor einer neuen Kollektivschuld auf besonders wirksame Art und Weise miteinander verbunden, befeuert von der exponierten Lage der BRD als drohendem „heißem“ (Atom-)Kriegsschauplatz der Blockkonfrontation. Die Übergänge zwischen Friedens- und Anti-Atom-Bewegung waren immer fließend.

Energiewende hieß zu lange nur: Raus aus der Atomkraft

Der Unfall von Tschernobyl und die daraus resultierende Kraft der Kritik am Atom hat gerade in Deutschland aber auch zu einer Überfokussierung geführt. Energiewende hieß lange Zeit vor allem: Raus aus der Atomkraft. Dass der Klimaschutz das größere Risiko für Existenz, Gesundheit und Wohlstand der Menschen auf diesem Planeten ist, rückte erst in den vergangenen Jahren voll ins Bewusstsein.

So kam es, dass in Deutschland noch reihenweise hoch klimaschädliche neue Braunkohlekraftwerke gebaut wurden, während der erstmalig vereinbarte Atomausstieg von 2001 schon lange galt.

[Mehr zum Thema: Seht her, ich bin eine von euch!:Was ihr Stil über Annalena Baerbock verrät (T+)]

So kam es auch, dass die Suche nach CO2-armen Alternativen jenseits der Stromerzeugung in Deutschland nicht besser in Gang kam als anderswo. Deutschland ist kein Vorreiter in den Heizungskellern und auf den Straßen, eher das Gegenteil trifft zu. Dem im Ausland häufig zu hörenden Vorwurf, den Deutschen sei ihre Kernkraft-Marotte wichtiger als der Klimaschutz, muss man sich stellen, denn es ist was dran.

Viele Ukrainer und Russen haben durch die Reaktorkatastrophe vor 35 Jahren gelitten, sind gestorben, an Krebs erkrankt oder mussten ihre Heimat verlassen. Das Ende der Sowjetunion, die für alle erkennbar in ihrer Kernkompetenz versagte – technische Großprojekte – wurde beschleunigt. Desinformation und Lügen wurden handfest greifbar.

Im Ausland allerdings gab es wohl kein Land, das sich von den Explosionen in Reaktorblock 4 so berühren und verändern ließ wie die Bundesrepublik. Bei den Grünen, nicht nur im Falle von Baerbock, ist Tschernobyl sogar ins politische Fundament eingegossen. Nun, da deren Regierungsbeteiligung ab dem Herbst wahrscheinlich ist, wird das direkte und indirekte Erbe der Reaktorkatastrophe auch in der Bundespolitik noch einmal eine ganz andere Rolle spielen.

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