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Vorbereitungen für die Wiedereröffnung des Flughafen Brüssel-Zaventem. Von Montag, dem 15. Juni 2020 an, soll er für Passagierreisen innerhalb Europas und des Schengen-Raumes wiedereröffnet werden.

© Laurie Dieffenbacq/BELGA/ dpa

35 Jahre Schengen-Abkommen: Die schönsten Grenzen sind offen

Die europäische Reisefreiheit ist ein Grund zum Feiern. Schade, dass die Pandemie sie derzeit einschränkt. Ein Gastbeitrag.

Erik Marquardt ist Abgeordneter im Europäischen Parlament für Bündnis 90 / Die Grünen.

„Wenn der Geist von Schengen unsere Länder und unsere Herzen verlässt, werden wir mehr verlieren als den Schengenraum“, sagte der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2015 im Europaparlament, als EU-Staaten Grenzkontrollen wieder einführten, um Menschen auf der Flucht aufzuhalten.

Schon damals wurde der Schengenraum zum Sündenbock für ein fehlendes EU-Asylsystem und Versäumnisse in der Außen- und Sicherheitspolitik. Fünf Jahre später mussten Grenzkontrollen und Grenzschließungen im Schengen-System als scheinbare Lösung gegen die Corona-Pandemie herhalten.

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Vor genau 35 Jahren, am 14. Juni 1985, legten fünf europäische Mitgliedstaaten in der kleinen Stadt Schengen den Grundstein dafür, dass heute 400 Millionen Menschen im großen Europa ohne Einschränkungen reisen und zusammenleben können. Diese Errungenschaft ist ein Kernstück des Europäischen Projekts.

Fragile Freizügigkeit

Pünktlich zum Wochenbeginn werden am Montag die Grenzen zwischen europäischen Staaten wieder geöffnet und die Bürgerinnen und Bürger Europas können sich wieder freier bewegen. Das ist ein Grund zur Freude. Doch die Grenzschließungen der vergangenen Monate haben uns auch gezeigt, wie fragil die Freizügigkeit in Europa ist.

Horst Seehofer entschied im März, Menschen die Reisen ins EU-Ausland zu untersagen, was zu den schärfsten Eingriffen in die Bürgerrechte in der jüngeren Vergangenheit zählt. Es kam zu Szenen bei denen sich verliebte Paare ohne Trauschein nur am Grenzübergang miteinander treffen und wochenlang nicht in den Arm nehmen konnten. Die Grenzschließungen wurden in nationalen Alleingängen beschlossen und kaum europäisch koordiniert.

Wir alle mussten in dieser Pandemie lernen und wohl niemand konnte mit Sicherheit sagen, welche Maßnahmen aus dem März sich mit Sicherheit im Juni bewährt haben oder auch nicht. Insofern sollte man zwar milder als üblich in der Bewertung sein, doch wir sollten auch für die Zukunft lernen:

Die Weltgesundheitsorganisation und das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) haben festgestellt, dass Grenzschließungen und die Einführung von Grenzkontrollen die Ausbreitung des Virus nicht stoppen können. Die Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen sind unwirksam gegen die Pandemie. Sie verhindern die Ausbreitung des Virus nicht, reißen aber zusammengewachsene Regionen und die Menschen darin auseinander und schaden der Wirtschaft. 

Pandemien waren im Schengen-Abkommen nicht vorgesehen

Der Schengener Grenzkodex, das Regelwerk zum Schengenraum, ist zudem unmissverständlich: Kontrollen an den Binnengrenzen sollten ein letztes Mittel sein, die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen aus gesundheitlichen Gründen ist im Schengener Grenzkodex nicht vorgesehen.

Die EU verfügt bereits über wirksame Instrumente gegen grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen. Im Jahr 2013 verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat einen Beschluss über ernste grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen. Er sieht ein koordiniertes europäisches Vorgehen gegen Gesundheitsbedrohungen vor, ohne die Errungenschaften des Schengen-Raums zu gefährden. Binnengrenzkontrollen zur Verhinderung der Ausbreitung menschlicher Krankheiten werden in dem Beschluss nicht einmal erwähnt.

Stattdessen stellt der Beschluss schon damals wirksame Alternativen zu nationalen Alleingängen dar: Mitgliedstaaten müssen Informationen austauschen, Infektionsketten müssen zurückverfolgt werden, Mitgliedsstaaten sollten ihre Eindämmungsmaßnahmen grenzüberschreitend koordinieren und sich an die Leitlinien des ECDC halten. Es ist wichtig, dass die Grenzen nun geöffnet werden. Es ist aber auch wichtig, dass wir im Falle einer zweiten Welle auf effektive Maßnahmen setzen und nationale Alleingänge nicht wiederholen.

Ohne Impfstoff keine Freizügigkeit

Wenn man Maßnahmen der Vergangenheit - wie die Grenzschließungen - kritisiert und Lockerungen einfordert, sieht man sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Pandemie zu unterschätzen, oder Fakten zu missachten. Doch mein Plädoyer gegen zukünftige Grenzschließungen ist keine Forderung nach Rückkehr zur Normalität.  Solange kein Impfstoff verfügbar ist, werden wir uns einschränken und vorsichtig sein müssen.

Wir müssen Masken tragen, Hände waschen, Abstand halten und Massenzusammenkünfte vermeiden. Wir müssen uns über aktuelle Erkenntnisse informieren, stetig dazu lernen und uns regional bei höheren Infektionszahlen zu stärkeren Einschränkungen durchringen. Regional und grenzüberschreitende Ansätze sind dabei offensichtlich effektiver als Schließungen nationaler Grenzen ganz unabhängig von Infektionszahlen.

Wie soll man Menschen in Grenzregionen erklären, dass sie nicht ins Nachbardorf mit geringen Infektionsraten dürfen, aber stattdessen hunderte von Kilometern zu den Corona-Hotspots Deutschlands fahren können?

Das Projekt Europa ist lebendig

Wenn wir von den Bürgerinnen und Bürgern zu Recht erwarten, sich an Fakten zu orientieren, darf die Politik sich den Erkenntnissen der letzten Monate nicht versperren.

Seit ich vor einem Jahr ins Europäische Parlament gewählt wurde, werde ich fast täglich mit der Frage konfrontiert, was uns Europa eigentlich gebracht hat. Es gibt viele Antworten auf diese Frage. Aber die wichtigste ist wohl, dass wir uns in weiten Teilen dieses Kontinents frei bewegen und uns niederlassen können, wo auch immer wir wollen. Wenn wir das ohne Not riskieren, dann setzen wir das gesamte Europäische Projekt aufs Spiel.

In Krisenzeiten wie diesen muss Europa zusammenwachsen und nicht auseinanderdriften. Ich hoffe, dass uns das in Zukunft besser gelingt. "We are all in this together" - Corona betrifft uns alle. Deswegen sollten wir diese Krise auch gemeinsam beantworten - als Europäerinnen und Europäer.

Erik Marquardt

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