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Politik: 350 Gesetze an einem Tag

Das türkische Parlament hat auf Druck von Brüssel ein neues Strafrecht beschlossen. Es ersetzt das Regelwerk von 1929

Das türkische Parlament hat am Sonntag in einer Sondersitzung eine Strafrechtsreform verabschiedet und damit das Tor zu baldigen Beitrittsgesprächen mit der EU weit aufgestoßen – doch während die Abgeordneten im Plenum zur Schlussabstimmung schritten, hagelte es Kritik. Die Frauenrechtlerin Filiz Kerestecioglu schimpfte im Fernsehen über einen Paragraphen, mit dem Geschlechtsverkehr zwischen Teenagern unter Strafe gestellt werden soll. Die sozialdemokratische Opposition bemängelte, dass die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan durch eine eilig durchgesetzte Änderung viele Umweltsünder schonen wolle.

Vor zehn Tagen war die Verabschiedung der Strafrechtsreform am Streit um die Bestrafung von Ehebruch gescheitert. Das hatte zu schwerem Krach mit der EU geführt. Ähnliches passierte am Sonntag zwar nicht – die Reform wurde mit breiter Mehrheit verabschiedet. Die Debatten um das als Jahrhundertwerk gefeierte Gesetzespaket zeigen aber, dass die Türkei nicht über Nacht zum fertigen Rechtsstaat wird.

Die aus fast 350 Gesetzen bestehende Reform soll das bisherige Strafrecht ersetzen, das die Türkei im Jahr 1926 vom damals faschistischen Italien übernommen hatte. Das neue Strafrecht soll erstmals den Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht mehr den Schutz des Staates vor seinen Bürgern. Es sieht unter anderem eine Erweiterung der Meinungsfreiheit sowie strengere Bestrafung von Folterern vor. Die Rechte von Frauen soll die Einführung eines Straftatbestands der Vergewaltigung in der Ehe stärken. Strafnachlässe bei so genannten Ehrenmorden werden abgeschafft. Frauenverbände kritisieren aber, das neue Recht habe immer noch zu viele Schlupflöcher zu Lasten der Frauen.

Trotz einzelner Schwachpunkte sieht die EU im neuen Strafrecht eine Voraussetzung für den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der Türkei. Erdogan löste deshalb eine ernste Krise mit der EU aus, als er die Strafrechtsreform vor zehn Tagen stoppen ließ, weil Teile seiner gemäßigt-islamischen AK-Partei die Gelegenheit zur Kriminalisierung von Ehebrechern nutzen wollten. Die Krise wurde bei einem Besuch Erdogans in Brüssel beigelegt. Im Gegenzug für das Versprechen, die Strafrechtsreform zügig durchs Parlament zu bringen und auf das Ehebruchsgesetz zu verzichten, sagte EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen eine positive Bewertung der türkischen Kandidatur in dem am 6. Oktober erwarteten Kommissionsbericht zu. Damit sind Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Türkei wahrscheinlicher geworden.

In einer Fernsehansprache zeigte sich Erdogan zuversichtlich, dass diese Gespräche bald beginnen. Vor der Türkei liege aber auch nach deren Beginn noch ein langer Weg. Nach Presseberichten plant Erdogan eine Kabinettsumbildung. Der Regierungschef wolle Minister auswechseln, um die EU-Beitrittsgespräche mit dem bestmöglichen Team beginnen zu können. Die Zeitung „Milliyet“ sprach von einem „EU-Kabinett“ Erdogans.

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