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Türkische Familie in Berlin-Kreuzberg. Der Kiez in Mauer-Nähe war 1981 einer der wenigen, den sich "Gastarbeiter" leisten konnten.

© imago

40 Jahre Ausländerbeauftragte: "Wie ein Gast, dem immer wieder die Tür gezeigt wird"

Haci-Halil Uslucan kam 1973 nach Berlin. Das Mitglied des Sachverständigenrats SVR über Erfolge und Versäumnisse der staatlichen Integrationspolitik.

Herr Professor Uslucan, vor 40 Jahren wurde das Amt des „Beauftragten der Bundesregierung zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien“ eingerichtet – aus dem bald einfach „der Ausländerbeauftragte“ wurde, nicht nur der Kürze wegen, sondern weil seine Aufgabe alle Ausländer waren. Und später hieß es nur noch „die Beauftragte“, weil nach dem ersten Amtsinhaber, dem früheren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn, ausschließlich Amtsinhaberinnen folgten. Gibt es heute mehr zu feiern als ein Amt?

Ich denke, das Land hat seit damals gelernt und die Politik hat nachgearbeitet: Einwandererkinder zum Beispiel werden heute relativ bald in die Schule geschickt, man wartet nicht mehr darauf, dass sie sowieso wieder gehen. Seit 2005 gibt es Integrations- und Sprachkurse, Ergebnis der Einsicht, dass der Staat auch steuernd eingreifen muss und Integration nicht dem Belieben und den Möglichkeiten der Einzelnen überlassen darf. Auch das, was Klaus Bade ... 

… der Historiker und Pionier der deutschen Migrationsforschung ..

… nachholende Integration nennt, also Chancen für ältere Zuwanderer, gibt es mittlerweile. Es hat sich viel getan. Was die vielen weiblichen Beauftragten angeht, aus allen Parteien…

nach Kühn kam Liselotte Funcke von der FDP, später ihre Parteifreundin Cornelia Schmalz-Jacobsen, die Grüne Marieluise Beck, die beiden CDU-Politikerinnen Maria Böhmer und die aktuelle Amtsinhaberin Annette Widmann-Mauz, dazu Aydan Özoguz als zweite Sozialdemokratin nach Heinz Kühn.

Professor Haci-Halil Uslucan, Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Uni Duisburg-Essen.
Professor Haci-Halil Uslucan, Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Uni Duisburg-Essen.

© Federico Gambarini/dpa

Sechs Frauen, ein Mann. Aus der Bauchevidenz heraus spekuliert, sagt das etwas über das Thema: Integration, Ausländer, das waren „weiche“ Themen. Die hielt man für gut aufgehoben bei Menschen, denen mehr Empathie zugeschrieben wird und die Fähigkeit gut zuzuhören. Frauen also.

Die Kanzlerin nannte, halb selbstironisch, in ihrer Rede zum Jubiläum die Beharrlichkeit. Die sei eine weibliche Eigenschaft und im Amt der Beauftragten all die Jahre besonders nötig gewesen.

Das ist ja auch ihre eigene Eigenschaft. Sie ist standhaft geblieben in ihrer Flüchtlingspolitik. Natürlich musste sie politische Kompromisse machen, aber im großen Ganzen ist Angela Merkel nicht eingeknickt. Dafür setzte es jene Breitseiten, die jetzt ihren Abschied eingeleitet haben. Diese Standhaftigkeit ist ehrenwert, aber man kann es auch als Symbol einer Veränderung dieses Landes sehen: Zum ersten Mal entscheidet Einwanderungspolitik über die Person an der Spitze einer deutschen Regierung. Und das, obwohl diese Politik ja keineswegs erfolglos war. Ich finde, das sollten Ökonomen noch viel stärker herausarbeiten: Trotz der Flüchtlingskrise sind wir wirtschaftlich eines der stärksten Länder. Und wer sich ansieht, welches Leben heute in Neuköllns Sonnenallee oder manchen tristen Straßenzügen in Duisburg-Marxloh ist, bekommt einen sehr unmittelbaren Eindruck vom Nutzen von Migration.

Eine Geschichte wie die von Kreuzberg, das in den 1970ern in seiner Mauerrandlage verfiel und dem der Abriss drohte, bis die türkischen Gastarbeiter dort einzogen?

Ja, eine frühere No-Go-Area, wo es heute keine erschwingliche Wohnung mehr gibt.

Sie sind selbst das Kind von Gastarbeitern. Passt Ihre persönliche Erinnerung zu dem, was Sie als Wissenschaftler über die Veränderungen der letzten 40 Jahre seit Heinz Kühn wissen?

Durchaus. Mein Vater kam 1971 nach Berlin, 1973 folgten meine Mutter, mein Bruder und ich. Klassischer Familiennachzug. Im November 1973 erließ die Regierung von Willy Brandt den Anwerbestopp. Und knapp zehn Jahre später haben wir die Rückkehrförderungspolitik erlebt: Ein paar tausend Mark pro Kopf, damit man das Land verließ.

Ihre Familie hat das nicht gemacht.

Wir haben es aber am eignen Leib erlebt. Das hatte etwas sehr Kränkendes. Nach allem, was ich als Kind in Berlin an Anfeindungen auf der Straße erlebte – „Türken raus!“ -, gab auch der Staat das Signal aus: Wir wollen euch nicht. Denken Sie im Kontext der Rückkehrförderung auch an die versprochene Auszahlung der eigenen Rentenbeiträge: Die sollten nach Ausreise ausgezahlt werden, mit einem halben Jahr Abstand. Man wollte ganz sicher gehen, dass die Leute nicht das Geld nahmen und dann wieder erschienen. Nach sechs Monaten war das Recht auf Wiedereinreise nämlich erloschen. Und so etwas sehen wir jetzt wieder, auf den Plakaten von Herrn Seehofer, die Rückkehrprämien für bestimmte Gruppen bewerben.  

Beziehen Sie das noch auf sich? Sie haben einen deutschen Pass, sind ein deutscher Professor und Mitglied im Sachverständigenrat SVR für Integration und Migration. Man könnte Sie als perfekt nicht nur integriert, sondern als etabliert bezeichnen.

Ich bin nicht die Zielgruppe, klar. Aber das holt unweigerlich die Erinnerungen von damals zurück, das Wissen: Hier gibt es Erwünschte und Nichterwünschte. Das ist unvermeidlich. Als ich das erste dieser Plakate in einem S-Bahnhof sah, habe ich es fotografiert, weil ich dachte: Das kann doch nicht sein, was ich da sehe. Wissen Sie, das fühlt sich an, als sei man Gast, sitzt noch auf der Couch, aber der Gastgeber geht immer wieder auf die Tür zu, um einem zu bedeuten, dass man zu gehen hat. Emotional ist das nicht gut.

Manchem wird die Rückkehrförderung auch geholfen haben.

Sicher. Mehr als 100.000 Türkeistämmige haben ja auch Gebrauch davon gemacht. Aber nicht alle haben das gern getan. Und die Erwartung, das Geld für einen kleinen Laden, eine Wohnung, eine Existenzgründung verwenden zu können, hat sich für einige erfüllt, für einige aber auch nicht.

Warum ist Ihre Familie geblieben?

Ich kann heute nicht mehr die Motive meiner Eltern rekonstruieren, aber ich kann vermuten.  Mein Vater ging nach Deutschland, als er gerade seine Familie gegründet hatte. In dieser Phase will man mit der Familie zusammen sein, ob man lange bleiben will oder sich vornimmt, in ein paar Jahren reich zu werden und dann den Rückweg anzutreten. Den Gedanken an Rückkehr allerdings gab es auch bei uns: Ich habe, als ich schon am Gymnasium war, nachmittags am Nollendorfplatz noch lange einen Türkischkurs besucht. Die Rückkehrfähigkeit der Migrantenkinder zu fördern, das war nicht nur das Klima in Deutschland, das wollten auch meine Eltern. Auch da hat das Land zum Glück gelernt.

Was?

Dass Mehrsprachigkeit ein Wert ist. Wenn man heute die Muttersprache fördert, dann nicht mehr, um die Rückkehr zu erleichtern, sondern weil wir wissen, dass die Muttersprache wichtig ist, genauso wie die Bezüge zum Herkunftsland, die sie vermittelt. 

Kinder früh beschulen, faktische Einwanderung auf Dauer akzeptieren, Teilhabe ermöglichen: Ganz viel von dem, wovon Sie sagen, Deutschland habe es in den letzten Jahrzehnten gelernt, hatte der erste Ausländerbeauftragte Heinz Kühn bereits vorgedacht. 1979, im Jahr nach seinem Amtsantritt, erschien das so genannte „Kühn-Memorandum“, mit ganzem langen Titel „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“.  Warum hat erst einmal so lange niemand darauf gehört?

Man hat die Reichweite nicht gesehen, das Thema nicht ernst genommen. Vielleicht auch, weil die 70er und 80er Jahre von ganz anderen Prioritäten beherrscht waren: Die RAF und die Folgen, der Ost-West-Konflikt, Abrüstung, die Anfänge der Umweltbewegung. Einwanderer waren da nicht vorn auf dem Schirm, ein Thema von vielen. Und manchmal denke ich sogar, dass das vielleicht gut so war, dass nicht auch hier noch ein Thema als innenpolitischer Sprengstoff gelesen wurde. Die Therapie eines Schmerzes ist oftmals ein größerer Schmerz.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Amts?

Einmal, dass es freier wird von Parteivorgaben. Es kann weiter im Kanzleramt angesiedelt sein, aber mehr Distanz zur jeweiligen Regierungspolitik täte ihm gut. Und es sollte stärker werden, was heißt: Ein akzeptables Budget bekommen. Bisher kann die jeweilige Beauftragte die besten Ideen haben, das Geld dafür muss sie sich in den Ministerien borgen, vor allem im Innenministerium. Wenn es stimmt, dass die Deutschen Integration inzwischen für ein politisches Thema von höchster Relevanz halten, dann sollte das Amt dafür auch ausgestattet sein.

Und was bleibt noch zu tun? In den Festreden der Kanzlerin und der Beauftragten Widmann-Mauz war ein Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft jetzt sehr deutlich.

Dann bleibt noch, den Abstand zwischen Erkenntnis und Praxis zu füllen. Was nützen alle Gutachten und Einsichten der Integrationsforschung, wenn sich die Teilhabelücke so langsam schließt?

Und wir brauchen viel Wachsamkeit nach Rechts. Die Desintegrationshetze wird sich nicht von selbst erledigen. Ich habe aus der Nähe erlebt, wie schwer es Aydan Özoguz hatte, die Vorgängerin von Frau Widmann-Mauz. Ein Mitglied der Regierung, Staatsministerin, in der Führung der SPD, menschlich tadellos und politisch fähig. Und wird vom Vorsitzenden der AfD geschmäht, man solle sie „in Anatolien entsorgen“.

Gegen diese Verrohung braucht es entschiedenen Widerstand, aus der Gesellschaft wie der Politik, und auf allen Ebenen. Sie muss politisch und moralisch verurteilt und wenn möglich auch juristisch verfolgt werden. Das ist kein Ausrutscher, den man achselzuckend verzeihen darf. Da werden Grenzen verschoben, rechtliche, moralische und Schamgrenzen. Manchmal wird mit diesen Grenzen auch gespielt, aber immer bleibt ein Signal und die Grenzen des Sagbaren werden verschoben.

Welche Erfahrungen machen Sie selbst? Im Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung der Uni Duisburg-Essen, das Sie leiten, sitzt inzwischen die AfD mit im Kuratorium.

Die uns fragt, ob wir denn auch Rückkehrförderprogramme machen. Das Kuratorium konnte früher auch schon sehr kritisch sein. Aber so etwas hat noch nie zuvor jemand gefragt.

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