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68er: Mit einem Schuss in die Geschichte

Neue Debatte um den Tod von Benno Ohnesorg: Wie die Studentenrevolte zur Massenbewegung wurde und welche Rolle dabei der 2. Juni 1967 spielte.

Berlin - Für Historiker ist die Frage zu spekulativ: Wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras den FU-Studenten Benno Ohnesorg in den Abendstunden des 2. Juni 1967 nicht in den Hinterkopf geschossen und damit tödlich verletzt hätte? Dieses Datum gilt als das Ereignis, das der Studentenbewegung Massen zuführte. Das zweite einschneidende Ereignis für die Dynamik der Studentenbewegung ereignete sich im April 1968: das Attentat eines Rechtsradikalen auf den Studentenführer Rudi Dutschke.

Dutschke hätte ohne den Tod Ohnesorgs nicht die Resonanz gefunden, die ihn zum Diskussionspartner für Ralf Dahrendorf, Ernst Bloch und Jürgen Habermas machte. Der Philosoph Jürgen Habermas hatte schon 1967 die Frage aufgeworfen, ob die gezielten Provokationen der Studenten gegenüber der Staatsmacht ein linker Faschismus sein könnten, sofern Menschenleben in Kauf genommen würden. Diese Frage sollte im Terrorismus eine Rolle spielen.

Die Studentenbewegung hat eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte. Die Vorgeschichte ist ohne die Restauration in der Bundesrepublik nicht zu erklären. Viele Nazis wurden wieder gebraucht – das empörte vor allem die Jugend. Und eine Mobilisierung der Bildungsreserven kam in der Bundesrepublik erst in den 1960er Jahren in Gang. An der Freien Universität griff die konservative Ordinarienmehrheit mit der Drohung von Zwangsexmatrikulationen für Medizinstudenten und Jurastudenten durch. So provozierten Professorenmehrheiten das erste Sit-in nach amerikanischem Vorbild auf deutschem Boden mit 3000 Studenten im Sommer 1966. Die Forderung nach Studienreform und Drittelparität in den Gremien wurde meinungsbildend – auch ein Jahr später beim nächsten Sit-in mit 2000 Studenten. Die FU-Leitung verhängte Disziplinarverfahren gegen sogenannte Rädelsführer wie Rudi Dutschke, Knut Nevermann (heute Staatssekretär in Sachsen) und Hartmut Häußermann (heute Stadtforscher an der Humboldt-Universität). Lange Zeit glaubten die Vordenker im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dass sie mit Studienreform und Mitbestimmung unpolitische Studenten politisieren könnten. Die Universität tat ihnen den Gefallen.

Der andere Hebel zur Politisierung war genauso erfolgreich: der Protest gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam. 1965 ließen sich Extremisten unter 2500 Demonstranten in West-Berlin zu Farbeierwürfen gegen das Amerikahaus hinreißen. Als US-Vizepräsident Hubert Humphrey im April 1967 West-Berlin besuchte, planten Linksextremisten aus der Kommune, ihn mit Pudding und Mehl zu bewerfen. Polizei und Presse sprachen von einem lebensbedrohenden Attentatsversuch. Die Berliner waren entsetzt, galten doch die Amerikaner als Vorbilder und wichtigste Schutzmacht gegen den Kommunismus. Die Ereignisse schaukelten sich hoch. Überreaktionen nutzte der SDS für seine Konfrontationsstrategie: „Wenn in Berlin die Intelligenz gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam auf die Straße ging, dann fühlten sich die konservativen Kreise in den Vereinigten Staaten von ihren letzten Freunden verlassen.“

In diese Konfrontationsstrategie passte der Besuch des Schahs von Persien im Juni 1967. Für die Linken war der Schah ein Freund der Amerikaner, ein Mörder und Unterdrücker der Freiheitsbewegung. In der Berliner Bevölkerung galt der Schah wegen seiner Liebe zu Soraya und Farah Diba als Held der Herzen. Die Berliner Polizei nahm die Studentendemonstration gegen den Schah zum Anlass, um zu zeigen, wer in West-Berlin Herr im Haus ist. Das lag auf der Linie der Politiker und der Springerpresse. Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz erklärte nach der Schlacht vor der Deutschen Oper im Abgeordnetenhaus: „Der tote Student ist hoffentlich das letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist, die die Freiheit missbraucht, um zu ihrem Endziel der Auflösung einer demokratischen Grundordnung zu gelangen.“ Polizeipräsident Erich Duensing verteidigte seine Strategie mit den Worten: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in der Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzen.“

Diese Reaktionen machten aus Protesten eine Studentenbewegung, die nach Heidelberg, Frankfurt, Hamburg, Tübingen, Bremen übersprang. 15 000 Jugendliche marschierten im Trauerzug für Ohnesorg von der FU bis zum Zehlendorfer Autobahnkleeblatt. Von dort startete ohne Kontrolle durch die Grenzorgane der DDR der Trauerkonvoi nach Hannover. 7000 Studenten versammelten sich dort. In Göttingen protestierten 6000 Studenten, in Marburg 1500, in Saarbrücken 3000. Als im Februar 1968 zum Vietnamkongress 12 000 Jugendliche aus vielen Ländern Europas in Berlin zusammenkamen, marschierten sie erstmals mit roten Fahnen durch das Stadtzentrum.

Das hat die West-Berliner endgültig geschockt. Bei einer Gegendemonstration von 60 000 Bürgern äußerte sich Volkes Stimme auf Transparenten: „Raus mit den Roten!“ und „Dutschke Volksfeind Nummer eins!“. In dieser aufgeheizten Stimmung folgte am 11. April 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke. In West-Berlin schien ein Probelauf für die Notstandsgesetze stattzufinden, Der Springer-Verlag sollte gestürmt werden und wurde von der Polizei verteidigt.

Zwei Jahre später hatte der SDS seine dominierende Rolle an „Rote Zellen“ abgegeben, die in den Universitäten Institute besetzten und den Lehrbetrieb lahmlegten. Aus den Roten Zellen gingen wenige in den Untergrund des Terrorismus der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee-Fraktion“ (RAF). Viele schlossen sich dagegen um 1970 den vom Maoismus inspirierten Parteien im Aufbau an: der KPD, dem Kommunistischen Bund, den Marxisten-Leninisten.

Trotz der Empörung der Linken über die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 nutzten auch die Kommunisten der Moskauer Linie den Zerfall der Studentenbewegung mit Auffangorganisationen: dem Spartakusbund in Westdeutschland, gewerkschaftlich orientierten Studentengruppen in West-Berlin, aus denen die „Aktionsgemeinschaften von Demokraten und Sozialisten“ hervorgingen. Die Moskau-treuen Sozialisten verfolgten eine Strategie, die im Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED entwickelt worden war: Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ machten sie sich zunutze und schickten ihre Anhänger als kooperationswillige Reformer in die Gremien der Hochschulen, in Jugendorganisationen, in die Kirchen, in die Gewerkschaften und Betriebsräte. Dort strebten sie nach Kaderpositionen. In diese Zeit fiel der eigentliche Erfolg der SED und der Stasi und in die Monate nach dem Tod Benno Ohnesorgs. Dass der DDR der Anarchismus zuwider war, hinderte sie nicht daran, linke Studenten auszunutzen bei dem Versuch, die Bundesrepublik und West-Berlin zu unterwandern.

Insofern gehört die jüngste Entdeckung der Birthler-Behörde, nach der Kriminalobermeister Kurras SED-Mitglied und Mitarbeiter der Stasi gewesen sein soll, zur Nachgeschichte. Einen Beweis, dass Kurras im Auftrag der Stasi Benno Ohnesorg getötet habe, gibt es bisher nicht. Die Kurras von West-Berliner Gerichten bescheinigte Notwehrreaktion erschien Kennern von Anfang an zweifelhaft. Aber diese Zweifel besagen nichts über einen Auftragsmord.

Uwe Schlicht

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